Seit bald einem halben Jahr tobt in der Ukraine Krieg. Russlands Präsident Wladimir Putin (69) hat inzwischen fünf Millionen Menschen vertrieben, 60'000 davon haben in der Schweiz Schutz gefunden. Zum Beispiel Oksana Kokhanovska (45) und ihre Tochter Yeva (18) aus Sumy im Nordosten der Ukraine. Sie wohnen seit Ende April mit sechs Landsleuten in Biberist SO in einer Unterkunft für Asylsuchende.
Das Haus steht mitten im Grünen, umgeben von Bauernhöfen. Die perfekte Vorstadt-Idylle – könnte man meinen. Aber unweit ihrer Unterkunft befindet sich der Schiessstand Zuchwil der Solothurner Jagdschützen.
Für die Frauen, die gerade erst dem Krieg entflohen sind, der blanke Horror: «Jedes Mal, wenn ich die Schüsse höre, werde ich wieder in die Zeit im Krieg zurückversetzt. Ich kriege Angst und werde panisch», sagt Oksana Kokhanovska zu Blick.
Ukrainerin leidet unter posttraumatischen Belastungsstörung
Ihre Beine beginnen dann zu zittern, sie kriege Atemnot und wolle sich am liebsten unter den Tisch werfen oder im Keller verschanzen. «Immer, wenn wieder ein Knall ertönt, spielen sich vor meinem Auge die schrecklichen Szenen ab, die wir in unserer Heimat erlebt haben.»
Szenen wie am 24. Februar, dem Morgen der Invasion, als massenweise Panzer in ihre Stadt einfuhren. Szenen von schreienden Kindern. «Wir flohen vor dem Krieg und suchten nach einem Zufluchtsort in der Schweiz. Doch wir landeten an einem Platz, der uns jede Minute an all den Schrecken erinnert», sagt Kokhanovska.
Als sich dann noch körperliche Beschwerden wie Neurodermitis, Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen bemerkbar machten, suchte Oksana Kokhanovska einen Arzt auf. Posttraumatische Belastungsstörung lautete die Diagnose. Seither nimmt sie Antidepressiva.
Auch Tochter Yeva leidet unter den traumatischen Erinnerungen, die der Lärm der Schüsse in ihr wieder hervorholt. «Wenn es mit den Schüssen losgeht, erleide ich jedes Mal eine Panikattacke», sagt Yeva Kokhanovska zu Blick. Und diese Torturen kämen nicht selten vor. Denn: «Die schiessen fast jeden Tag», erklärt ihre Mutter. Mehrmals pro Woche werde von 10 Uhr morgens bis circa 20 Uhr abends trainiert.
Umzug aus medizinischer Sicht «zwingend»
Aufgrund dieser «unzumutbaren» Zustände kontaktierte Kokhanovska mehrfach den Kanton sowie den Regionalen Sozialdienst BBL (Biberist Bucheggberg Lohn) und bat um eine Umplatzierung – vergeblich.
«Immer wieder hiess es, dass keine andere Unterkunft verfügbar sei», so Kokhanovska. Und das, obwohl die Ukrainerin ein ärztliches Attest vorweisen konnte. Darin steht, dass die täglichen Schiessübungen und die damit verbundene Lärmbelästigung die bestehende Symptomatik der Frau «erheblich verschlechtere». Und: «Aus medizinischer Sicht ist ein Umzug an einen ruhigeren Wohnort zwingend erforderlich», steht im ärztlichen Zeugnis, das Blick vorliegt.
Dem Gemeindepräsidenten von Biberist, Stefan Hug-Portmann (56), ist der Fall bekannt. Man habe die Wohnsituation der Ukrainerin und ihrer Tochter überprüft, konnte aber bisher keine Hand bieten: «Derzeit sind in der Region Biberist sämtliche Asylunterkünfte oder privaten Plätze ausgebucht. Deshalb ist es derzeit nicht möglich, Personen umzuplatzieren», sagt Hug-Portmann zu Blick.
«Wir hatten mit dieser Unterkunft noch nie Probleme»
Der Gemeindepräsident zeigt sich über die Beschwerde erstaunt: «Wir nutzen diese Asylunterkunft seit Jahren für Kriegsflüchtlinge aus unterschiedlichen Ländern, darunter Syrien, Afghanistan sowie dem Iran, und hatten noch nie Probleme.» Es sei klar, dass man die Schüsse höre, dass es derart laut sei, könne er sich aber nicht vorstellen.
Komplett ausgeschlossen, dass man die Frauen an einem anderen Ort unterbringen könne, sei es nicht. «Wir nehmen die Beschwerden der Frau selbstverständlich ernst und werden sie umplatzieren, wenn dies medizinisch notwendig ist.» Bei der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung sei Hug-Portmann sofort hellhörig geworden, sagt er. «Wir werden Frau Kokhanovska deshalb anbieten, dass sie zu einem Psychiater, der ihre Sprache spricht, gehen kann.»