Das Staatssekretariat für Migration (SEM) bereitet sich auf einen schwierigen Herbst vor. Zwar kommen derzeit nur noch wenige Geflohene aus der Ukraine in der Schweiz an, aber das könnte sich rasch ändern.
Macht Russland die Ankündigung seines Aussenministers Sergei Lawrow (72) wahr und dehnt die Besetzung tatsächlich vom heutigen Kriegsgebiet auf «eine Reihe anderer Territorien» aus, könnte die Zahl der Flüchtlinge, die bei uns um den S-Status nachsuchen, emporschnellen.
«Es bräuchte beispielsweise nur eine ukrainische Grossstadt angegriffen zu werden, in der vielleicht 500'000 Menschen leben, schon würden in Westeuropa wieder mehr Geflohene Schutz suchen», sagt Claudio Martelli (46) zu Blick.
Energieengpass und Corona
Sorgen bereitet dem Leiter Asyl im SEM auch die Energieknappheit. Dreht Russland den Gashahn zu, könnte das zum Winter hin eine Fluchtwelle aus den Nachbarländern der Ukraine wie Polen und Moldawien auslösen, in die viele Ukrainerinnen mit ihren Kindern geflohen sind.
Damit nicht genug: «Kommt es im Herbst wieder zu einer heftigen Corona-Welle, sodass wir wieder die bekannten Abstandsregeln einhalten müssen, hat das Auswirkungen auf die Belegung der Bundesasylzentren», sagt Martelli. Während der Pandemie hatte das SEM seine Zentren nur noch zur Hälfte nutzen können.
Dem Staatssekretariat stünden dann nicht mehr 9000 Plätze zur Verfügung. Aus diesem Grund sucht das SEM bereits jetzt zusammen mit dem Verteidigungsdepartement (VBS) nach geeigneten Gebäuden, in denen es vorübergehend zusätzliche Plätze einrichten könnte, wie Martelli sagt. «Und natürlich braucht es weiterhin genügend Plätze in den Kantonen und Gemeinden», unterstreicht das SEM-Geschäftsleitungsmitglied.
Es kamen bis 1800 am Tag
«Momentan zählen wir etwa 60'000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz, die über den S-Status verfügen. Die Zahl wächst derzeit im Vergleich zu März und April nur langsam. Im Juni waren es im Schnitt noch 100 Ukrainer pro Tag, die den S-Status bekamen», so Martelli. «Dennoch: Wenn nach den Sommerferien wieder 1000 Personen täglich oder wie am Spitzentag im Frühling gar 1800 Leute den S-Status wollen, könnten die vom SEM prognostizierten 80'000 bis 120'000 ukrainischen Flüchtlinge bis Ende Jahr plötzlich Realität werden.»
Aus Sicht des Staatssekretariats für Migration muss die Schweiz imstande sein, auch stärkere Schwankungen aufzufangen. Kommt hinzu, dass im Juni nicht nur an 4852 Menschen aus der Ukraine der Schutzstatus S verliehen wurde. Daneben registrierte das SEM auch 1726 Asylgesuche von Personen, die vor allem aus Ländern kamen wie Afghanistan, Türkei, Eritrea, Algerien und Syrien. Damit stieg die Zahl der Asylsuchenden im Vergleich zum Juni 2021 um 21 Prozent. Auch diese Zahlen gilt es im Auge zu behalten.
Unklarheit bei Gastfamilien
Einen wichtigen Beitrag zur Unterbringung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine leisten die Gastfamilien, bei denen viele Geflohene untergekommen sind. Die eine oder andere Familie trägt sich aber zunehmend mit dem Gedanken, die Wohnung oder das Haus wieder alleine mit den Liebsten zu bewohnen. Wer nicht mehr bei einer Gastfamilie bleiben kann oder möchte, muss ebenfalls wieder von den Behörden untergebracht werden.
Glücklicherweise gebe es ja nach wie vor Familien, die bereit sind, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen. Doch über die genauen Zahlen, wie viele Gastfamilien die Unterbringung von Ukrainern beenden möchten und wie viele Familien neu bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, verfügt das SEM nicht. Denn für die dauerhafte Unterbringung würden die Schutzsuchenden den Kantonen zugewiesen.
Das SEM wappnet sich
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Die Schweizerische Flüchtlingshilfe, über welche die Zuteilungen von Geflohenen an die Gastfamilien erfolgt, hat aber ebenfalls keine genaue Übersicht: «Regulär sind die Kantone und Gemeinden für die Unterbringung und Betreuung zuständig sowie für Umplatzierungen und Anschlusslösungen.» So habe man keine verlässlichen Zahlen, schreibt die Flüchtlingshilfe auf Anfrage.
Klar ist den Beteiligten nur: Vieles spricht dafür, dass die Zahl der Kriegsflüchtlinge im Herbst nochmals steigen könnte. Die Schweiz muss für diesen Fall gewappnet sein.