«Meiner Meinung nach ist die Strafe zu gering»
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William W. wird verwahrt:«Meiner Meinung nach ist die Strafe zu gering»

Selina Studer (23) wurde als 8-Jährige von William W. missbraucht – der Kinderschänder wurde letzte Woche verwahrt
«Dieser Typ hat mir einen Teil meines Lebens geraubt»

Vor 15 Jahren wurde Selina Studer (23) in Starrkirch-Wil SO von William W. (48) missbraucht. Seither wurde er immer wieder verhaftet, weil er sich erneut an Kindern vergriff. Jetzt kann Selina Studer aufatmen: W. wird verwahrt. Und sie kann endlich leben und Frau sein.
Publiziert: 22.11.2021 um 00:31 Uhr
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Aktualisiert: 22.11.2021 um 10:28 Uhr
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Selina Studer mit ihrer Mopsdama Lucy, die ihr in den letzten Jahren eine grosse Stütze war.
Foto: Ralph Donghi
Ralph Donghi

Selina Studer (23) knuddelt ihre Mopsdame Lucy (6) und sagt lächelnd zu Blick: «Dank ihr habe ich zurück ins Leben gefunden!» Dies ist nicht selbstverständlich. Als Achtjährige wurde sie von William W.* (48) in Starrkirch-Wil SO in eine Bauarbeiterbaracke gelockt – und missbraucht. Noch am gleichen Tag wurde der vorbestrafte, gebürtige Kolumbianer gefasst, jedoch später erneut mehrfach rückfällig.

Jetzt wurde W. der Riegel geschoben. Er kassierte kürzlich vor Obergericht nicht nur ein unbedingte Freiheitsstrafe, sondern auch die Verwahrung. «Auch wenn er das Urteil noch ans Bundesgericht ziehen kann, für mich ist es eine grosse Erleichterung», sagt Studer.

Sie schüttelt heute noch den Kopf

Studer war es, die immer wieder öffentlich vor dem Kinderschänder warnte und an allen späteren Prozessen zuhören ging. «Ich wollte alles wissen und konnte nicht fassen, dass er nie verwahrt wurde», sagt sie und schüttelt heute noch den Kopf. «Dieser Typ hat mir einen grossen Teil meines Lebens geraubt.»

Rückblick: Als Selina Studer 1998 zur Welt kommt, ist W. schon seit Jahren als Kinderschänder unterwegs. Er hat sich bereits an fünf Kindern vergriffen. 1999 wird W. dafür verurteilt. Zu 18 Monaten Gefängnis – bedingt. Doch er macht bei der angeordneten Therapie nicht mit. «Schon da – unglaublich», sagt sie.

«Du chasch aber guet gumpe»

Das Mädchen lebt mit ihren Eltern in einer Wohnung in der Telli in Aarau. Ihre Mutter arbeitet da als Köchin, ihr Vater als LKW-Chauffeur. Als sie ein Jahr alt ist, kriegt Studer ein Brüderchen. Bald danach zieht die Familie nach Erlinsbach SO. «Wir wuchsen in einfachen Verhältnissen auf», sagt sie. «Meine Eltern sorgten gut für uns.»

Die Einjährige wächst in Erlinsbach auf. Dann zieht die Familie Studer nach Starrkirch-Wil SO. An den Ort, wo das Mädchen später selber auf W. treffen wird. «Es war der 22. August 2006», erinnert sie sich. W. habe sie angesprochen («Du chasch aber guet gumpe»), als sie auf dem Trampolin vor ihrer Wohnung war.

W. schloss vor Übergriff die Baracke ab

Danach lockt er das Kind in die nahe Baustellenbaracke. Er sagt ihr, er wolle mit ihr Musik hören. Dann schliesst er die Baracke ab. Noch heute hat Studer jeden Übergriff, der dann passiert, präsent. «Ich war ein kleines Mädchen. Hatte keine Ahnung, was das sollte.» Am Ende sagt W. zur Primarschülerin: «Du darfst es niemandem sagen. Du bist jetzt meine Freundin.»

Heute kann Studer mit dem Erlebten umgehen. «Ich bin kein Opfer mehr, sondern eine Frau geworden.» Sie sei auch sehr froh, dass sie später «ganz normal» mit ihrem ersten Freund «die erste Liebe» erleben konnte. Sie habe heute auch kein Problem mit Männern.

Studer brauchte psychologische Hilfe

Nachdem W. nach den Übergriffen an Studer verhaftet wurde, verändert sich ihr Leben auf einen Schlag. «Es war für die ganze Familie sehr schwierig», sagt sie. Sie habe psychologische Hilfe benötigt.

Dennoch: Studer geht nach einer kurzen Pause wieder zur Schule, später in die Sek. Als W. im März 2009 für die Taten an ihr zu fünf Jahren Knast verurteilt wird, «haben wir natürlich aufgeatmet». Und so beginnt sie nach der Schule eine Lehre als Bäckerin-Konditorin und später eine als Köchin. «Ich hatte jedoch weiter psychologische Hilfe.»

W. verstiess gegen Auflagen

Was sie nach dem Urteil an W. gar nicht mehr richtig mitkriegt: W.s Strafe wird zugunsten einer stationären Massnahme aufgeschoben. Weil er nicht richtig mitmacht, müssen die Behörden entscheiden, ob die stationäre Massnahme in einer Anstalt weitergeführt oder die Verwahrung forciert wird. Weil W. in dieser Phase plötzlich Fortschritte zeigt, ist eine Verwahrung nicht mehr haltbar. Denn: Nur, wer nicht therapierbar ist, darf verwahrt werden. Also setzen die Behörden auf die Verlängerung der Massnahme.

Nur: W. kooperiert daraufhin wieder nicht mehr und muss im November 2016 freigelassen werden. «Ich konnte es nicht glauben», sagt Studer. Sie erfährt später: Eine Massnahme muss bei Aussichtslosigkeit abgebrochen werden. Es gibt auch kein Zurück mehr, da zu diesem Zeitpunkt eine Verwahrung bereits vom Tisch ist. Zwar kriegt W. Auflagen wie etwa das Tragen von GPS-Fussfesseln – doch er verstösst gegen sie.

«Man hätte ihn längst verwahren müssen»

Im Juli 2018 vergreift sich W. erneut an fünf Kindern und Jugendlichen und wird im November 2018 wieder verhaftet. Blick deckte damals auf, dass er in Olten SO ein Restaurant gemietet hatte – gegenüber einem Spielplatz. «Ich hatte es immer geahnt und die Behörden gewarnt, dass dies passieren würde», so Studer. Auch wenn später ein Untersuchungsbericht Kritikpunkte gegenüber den Verantwortlichen vom Kanton enthält, sollen sie keine Fehler gemacht haben. Studer bleibt dabei: «Er wurde vom Kanton 13-mal verwarnt. Die haben nie richtig reagiert.» Und: «Man hätte ihn längst verwahren müssen.»

Ihre Hoffnung darauf platzt Anfang Dezember 2020 erneut, als W. für seine letzten Taten in Olten vor Gericht steht. Urteil: zweieinhalb Jahre Gefängnis – aber erneut keine Verwahrung. Begründung: Es sei ein nicht so schwerer Missbrauch, und es fehle die gesetzliche Grundlage. Studer: «Ich fragte mich: Was muss denn noch alles passieren, bis ein solcher Täter für immer weggesperrt wird?» Dies sieht auch die Staatsanwaltschaft so und zieht das Urteil weiter.

Laut Gutachter «ein Hochrisikotäter»

Mit Erfolg: Am 15. November 2021 verschärft das Obergericht nicht nur das erstinstanzliche Urteil und verurteilt W. zu 37 Monaten Gefängnis. Es wird bei ihm auch die Verwahrung ausgesprochen und Sicherheitshaft verfügt. Laut Gutachter erachtet er sich selbst als «gar nicht pädophil». Er sei aber «ein Hochrisikotäter», und es bestehe «eine grosse Rückfallgefahr».

«Das wusste man schon in den 90er-Jahren», sagt Studer. Dennoch hat sich ihr jahrelanger Kampf gelohnt. «Ich wollte damit jeder Frau zeigen, die sexuelle Gewalt erlebt: Geht damit an die Öffentlichkeit, versteckt euch nicht. Und vor allem: Wenn euch so etwas passiert, dann schweigt es nicht tot, sondern macht eine Anzeige.»

Keine Reue oder Einsicht vor Gericht gezeigt

Heute ist Selina Studer mit dem Fall und sich im Reinen. Auch wenn W. vor Gericht nie Reue oder Einsicht gezeigt habe. «Er gab sogar mal mir die Schuld und sagte, ich hätte ihn damals verführt. Als Achtjährige!»

Die Kraft, diese Tortur durchzustehen, habe sie vor allem von ihren Angehörigen, Freunden, ihrer Psychologin und ihrer Mopsdame erhalten. Heute wohnt sie mit ihrem Bruder in Hägendorf SO. Zu ihren Eltern habe sie immer noch ein sehr gutes Verhältnis. «Es geht mir gut», sagt Studer. Sie arbeitet als Köchin. In ihrer Freizeit backt sie am liebsten Kuchen, kocht Kalbsbraten oder spielt auf ihrer Gitarre ihr Lieblingslied von Céline Dion: «My Heart Will Go On». Selina Studer lächelt: «Dieser Musiktitel passt perfekt zu mir.»

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