Sie wollten nach Zürich – doch dort kamen sie nie an. Das Ehepaar Naciye (†55) und Mehmet Ekici (†64) sowie ihr Verwandter Bülent Kilic (†42) starben beim Horror-Crash am 27. November 2019 auf der A3 vor dem Bözberg. «Ich möchte noch einmal allen Angehörigen sagen, dass es mir leidtut», sagt Crash-Fahrer Darko G.* (47) nun vor dem Bezirksgericht Brugg AG, wo ihm seit Montag der Prozess unter anderem wegen mehrfacher vorsätzlichen Tötung gemacht wird.
Nun ist klar: Darko G. ist schuldig der mehrfachen vorsätzlichen Tötung und qualifiziert groben Verletzung der Verkehrsregeln. Dies teilen die zuständigen Richter mit. Der Todesfahrer wird zu einer Freiheitsstrafe von 6,5 Jahren verurteilt. Die ausgestandene U-Haft von 10 Tagen sowie die Dauer der Ersatzmassnahmen von 727 Tagen werden an die Freiheitsstrafe angerechnet. Letzter aber nur im Umfang von fünf Prozent (46 Tage). Anschliessend wird Darko G. während fünf Jahren des Landes verwiesen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann ans Obergericht des Kantons Aargau weitergezogen werden.
Gericht glaubt an Selbstmordversuch
Zur Last gelegt wird dem Beschuldigten vom Gericht, er habe kein Bremsmanöver durchgeführt. Das Gericht geht dagegen davon aus, dass der Beschuldigte in suizidaler Absicht die genannte Geschwindigkeit bewusst gewählt hat und gegen den Prellbock fahren wollte. Dabei bezieht sich das Gericht auf eine Tonbandaufnahme, die einen Telefonanruf enthält. Unterstützt werde diese Annahmen durch einen Brief, welchen das Gericht als Abschiedsbrief qualifiziert, heisst es in der Begründung.
Vor dem Urteil bat der Richter um Ruhe im Gerichtssaal. Jeder, der Zwischenrufe anbringt, werde aus dem Saal verwiesen, warnte der Richter. Acht Stunden lang wurde das Urteil beraten. Die Spannung im Saal war greifbar. Viele Angehörige der Opfer waren anwesend und wollten eine aus ihrer Sicht gerechte Strafe für Darko G.
Nach der Urteilsverkündung wurde Darko G. in Handschellen abgeführt.
Darko G. stürmte aus dem Saal
Denn am Dienstag kommts sieben Minuten nach Verhandlungsbeginn schon zum Eklat: Darko G. stürmt aus dem Gerichtssaal! Der Richter ist zum Zeitpunkt gerade dabei, die Beschlüsse zu den Anträgen vom Montag vorzutragen, als der Beschuldigte plötzlich die Hand hebt. Zuerst sagt er leise: «Sorry.» Sein Anwalt bedeutet ihm, abzuwarten. Doch der Porsche-Fahrer lässt nicht locker, er sagt lauter: «Entschuldigung!» Der Gerichtspräsident weist ihn darauf hin, dass jetzt nicht die Zeit für Fragen sei. Dann erhebt sich Darko G., der aus Montenegro stammt, von seinem Stuhl und sagt verärgert: «Ich kann kein Deutsch!» Er fordert einen Dolmetscher. Der Richter bittet den Verteidiger, er solle seinen Mandanten bitte beruhigen, und versucht ihm zu erklären, dass ihm alles später übersetzt werde.
Verteidiger: «Er ist wie ausgetickt»
Doch der Porsche-Fahrer lässt sich nicht beruhigen, es folgt Gemurmel. «Mein Mandant muss raus, sagt er», heisst es dann vom Verteidiger. «Er hat gestern etwas an seiner Medikation eingestellt.» Und dann stürmen die beiden aus dem Saal. Minuten später kommt der Verteidiger zurück, selbst ein wenig fassungslos: «Er will, dass ich einen Antrag stelle, die Verhandlung auf morgen zu vertagen. Er hat wie eine Panikattacke, er will nicht wieder in den Saal hinein. Er ist wie ausgetickt.» Dann wird der Prozess unterbrochen. Die Richter beraten, wie es weitergehen soll.
Von der Polizei ist niemand anwesend, weil der Beschuldigte auf freiem Fuss ist. Die Staatsanwaltschaft schlägt vor, die mobilen Ärzte aufzubieten. Darko G. begibt sich schliesslich wieder an seinen Platz und trinkt Wasser. Bis die mobilen Ärzte im Gericht sind, wollen die Richter wieder normal weitermachen. Dann soll der Beschuldigte betreffend seiner Verhandlungsfähigkeit untersucht werden.
Für Opfer-Anwalt Nikolaus Tamm ist das nichts als ein «filmreifer Auftritt» durch den Beschuldigten. «Das wirkte auf mich genauso gespielt wie sein Aussageverhalten zuvor», sagt Tamm zu Blick. «Das ist eine Inszenierung von A bis Z.» Für ihn sei das klar. «Der spielt. Er ist ein ganz egoistischer, kalter Mensch.»
Ärzte qualifizieren ihn als verhandlungsfähig
Die mobilen Ärzte untersuchen den Mann, der in seiner Heimat laut eigener Aussage als Polizist gearbeitet haben will, noch am Vormittag und qualifizieren ihn schliesslich als verhandlungsfähig. Dann geht es weiter mit den Plädoyers.
Laut dem Verteidiger hat Darko G. den Eklat nicht absichtlich herbeigeführt. «Es geht hier nicht um Theater, es geht um authentische menschliche Regungen, die da sind und nicht da sind. Wir haben hier nichts präpariert oder einstudiert, kein Theater für das Gericht vorbereitet, dass er möglichst suizidal oder empathisch daher kommt. Ich wollte dem Gericht den Darko G. zeigen, den er ist.» Er sei selbst überrascht worden vom Vorfall am Morgen, so der Verteidiger.
Den Vorwurf, der Angeklagte handle manipulativ, will der Verteidiger nicht gelten lassen: «Mein Mandant hat die kognitiven Fähigkeiten nicht, manipulativ zu sein. Er ist einfach gestrickt, sehr einfach gestrickt.» Der Beschuldigte sei auch nicht emotionslos. Er könne die Emotionen einfach nicht ausdrücken. «Er hat eine unfassbare Scham dafür, was passiert ist.»
Staatsanwaltschaft fordert sieben Jahre Gefängnis
Laut Anklageschrift staute es am Unfalltag bei einer Baustelle vor dem Tunnel, die linke Spur war aufgrund der Arbeiten blockiert. «Der Beschuldigte missachtete die Sperrung des Überholstreifens und fuhr bis unmittelbar vor dem Signalisationsfahrzeug auf dem Überholstreifen bei einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 150 km/h», heisst es in der Anklageschrift.
Am Ende knallte der Porsche-Lenker gemäss Staatsanwaltschaft «ungebremst» und mit «mindestens 133 km/h» ins Heck des roten Renaults, der noch in einen Sattelanhänger geschoben wurde. Der Sohn des toten Ehepaars zu Blick: «Alle drei hatten keine Chance.»
Die Staatsanwaltschaft fordert sieben Jahre Gefängnis und einen zehnjährigen Landesverweis. Zudem soll für Darko G. eine vollzugsbegleitende ambulante Massnahme angeordnet werden.
Der Verteidiger sieht im Gegensatz zum Staatsanwalt eine fahrlässige und nicht eine vorsätzliche Tat, wie er in seinem Plädoyer kund gibt. Er begründet, sein Klient habe sich selbst umbringen wollen und nur ein Überlebensreflex habe den Zusammenstoss mit dem Baustellenfahrzeug verhindert — ein Reflex und kein Moment der Einsicht. Aus dieser plötzlichen Reaktion sei er «ungebremst» in den roten Renault gebrettert. Dass der Familienvater kein Bremsmanöver eingeleitet habe, sei hier zentral. Auch der im Auto mitgeführte «Abschiedsbrief» sowie das Telefonat der Ehefrau mit der Polizei nur wenige Minuten vor dem Crash, bei welchem sie vor einem Suizid-Versuch ihres Gatten warnte, stütze diese Theorie.
Er fordert schliesslich einen Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung und eine bedingte Freiheitsstrafe von 20 Monaten mit einer Probezeit von zwei Jahren. Sollte das Gericht doch von einer vorsätzlichen Tat ausgehen, so sei Darko G. zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren zu verurteilen — ein Jahr davon soll er, wenn es nach seinem Anwalt geht, maximal hinter Gittern absitzen müssen und auch hier solle eine zweijährige Probezeit gelten. Von einem Landesverweis sei jedoch in beiden Fällen abzusehen. Eine ambulante therapeutische Massnahme sei nicht angezeigt: Sein Mandant sei einerseits nicht therapiefähig, andererseits liege auch «keine schwere Störung» vor.
* Name geändert