Herr Bischof, wie schlafen Sie zurzeit?
Joseph Bonnemain: Sehr unruhig. Es geht mir nicht gut. Einerseits möchte ich auf der Seite der Opfer sein. Gleichzeitig fühle ich mich meinen Mitbrüdern im Bischofsamt verbunden. Am liebsten hätte ich den Auftrag von Rom abgelehnt. Den Opfern und der Gerechtigkeit zuliebe habe ich zugesagt. Jetzt muss ich es tun und die Vorwürfe überprüfen.
Die heikelsten Vorwürfe betreffen ein aktives Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz und drei Priester. Sie sollen Jugendliche sexuell belästigt haben. Haben Sie die Staatsanwaltschaft eingeschaltet?
Ich bin für die kirchlichen Ermittlungen zuständig. Wir haben Richtlinien, wonach jeder Verdacht auf ein Sexualdelikt gegen Minderjährige bei den kantonalen Staatsanwaltschaften gemeldet werden muss. Das ist auch in diesen Fällen gemacht worden.
Sind die beschuldigten Kleriker noch im Amt?
Soweit ich informiert bin, hat niemand sein Amt ruhen lassen. Ich führe im Auftrag des Heiligen Stuhls eine Voruntersuchung durch und habe keine Kompetenz, jemanden zu suspendieren.
Wir leben im Jahr 2023. Ist es zu viel verlangt, ein Amt ruhen zu lassen, bis Vorwürfe geklärt sind?
Ich kann hier nicht für andere sprechen oder entscheiden. Persönlich würde ich das Amt ruhen lassen, wenn es eine Anzeige gegen mich geben würde.
Was genau ist Ihr Auftrag von Rom?
Ich habe den Auftrag erhalten, zu den Vorwürfen, die im Raum stehen, zu ermitteln. Es geht darum zu untersuchen, ob die Verantwortlichen zu unterschiedlichen Zeitpunkten richtig reagiert oder Meldepflichten verletzt haben. Ich ermittle nicht gegen jemanden – es geht darum, Sachverhalte zu überprüfen und die Resultate in einem Bericht festzuhalten.
Joseph Bonnemain (75) ist seit 2021 Bischof von Chur. Er wurde in Barcelona als Sohn einer Katalanin und eines Jurassiers geboren. Zuerst studierte er Medizin, dann Theologie. Seit 2002 engagiert er sich im Fachgremium «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» der Schweizer Bischofskonferenz.
Joseph Bonnemain (75) ist seit 2021 Bischof von Chur. Er wurde in Barcelona als Sohn einer Katalanin und eines Jurassiers geboren. Zuerst studierte er Medizin, dann Theologie. Seit 2002 engagiert er sich im Fachgremium «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» der Schweizer Bischofskonferenz.
Sind Sie befangen? Sie untersuchen das Verhalten Ihrer Kollegen.
Ich bin nicht befangen. Ich werde versuchen, restlos und präzise die Wahrheit herauszufinden.
Es gilt die Unschuldsvermutung. Können Sie sich trotzdem noch gegenseitig in die Augen schauen?
Ich schaue meinen Bischofskollegen direkt in die Augen. Sie wissen, dass ich die Untersuchung durchführe.
Seit Jahrzehnten sind Sie für das Missbrauchsdossier zuständig. Haben auch Sie Fehler gemacht?
Ich habe sicher Fehler gemacht – wie jeder Mensch. Ich bin in einem Lernprozess und habe im Gespräch mit den Opfern viel gelernt.
Ein Teil der Vertuschungsvorwürfe ist spätestens seit 2020 bekannt. Warum reagiert Rom erst jetzt, wo ein ehemaliger Generalvikar auspackt?
Auch das muss ich in der Voruntersuchung prüfen. Als der Nuntius den Brief erhielt, informierte er die zuständigen Behörden in Rom umgehend über die Vorwürfe. Diese Voruntersuchung wurde von Rom innerhalb kürzester Zeit eingeleitet.
Wie gefährlich werden Ihre Erkenntnisse für die katholische Kirche?
Sie sind nicht gefährlich, sondern heilsam. Wir müssen alles ans Licht bringen. Die Vertuschung muss ein Ende haben. Das ist ein weiterer Beitrag, damit unsere Kirche ehrlicher werden kann.
Am Dienstag präsentieren Forscherinnen der Uni Zürich erste Ergebnisse zum katholischen Missbrauchskomplex. Werden Sie Ihre Ermittlungen dann ausweiten?
Das Kirchenrecht ist klar: Wenn weitere Verfehlungen ans Licht kommen, muss das auch kirchenrechtlich untersucht werden.
Die Zeitschrift «Beobachter» hat dem Bischof von Basel, Felix Gmür, Pflichtverletzungen nachgewiesen. Ist er noch tragbar?
Bischof Gmür hat Fehler gemacht und er steht dazu. Er ist bereit, daraus zu lernen. Für mich spricht das für ihn und nicht gegen ihn.
Was bedeutet für Sie Übernahme von Verantwortung?
Die Opfer verdienen Gerechtigkeit. Ich tue alles dafür. Ich hoffe, dass die Voruntersuchung bis Ende Jahr abgeschlossen ist. Dann muss ich Rom mein Ergebnis mitteilen und Rom entscheidet, wie es weitergeht.
Viele Missbrauchsfälle sind verjährt, Täter sind im juristischen Sinne unschuldig. Kann die Kirche sie trotzdem einfach weiterbeschäftigen?
Das ist eine sehr ernste Frage. Wer andere Menschen verletzt und schwer geschädigt hat, der hat kein Recht mehr, in der Kirche zu arbeiten. Auch wenn keine Verurteilung vorliegt, müssen wir sehr ernsthaft prüfen, ob jemand überhaupt nochmals in der Seelsorge eingesetzt werden kann. Der Schutz von Minderjährigen und hilfesuchenden Erwachsenen muss über allem anderen stehen. Hier müssen wir noch viel konsequenter werden.
Seit über 20 Jahren engagieren Sie sich in der Präventionsarbeit. Noch immer hat die katholische Kirche in der Schweiz keine einheitlichen Standards. Haben Sie versagt?
Versagt nicht, aber wir haben noch viel zu tun. Deswegen ist die Studie der Uni Zürich auch so wichtig. Es geht darum, weitere, gezielte Massnahmen zu entwickeln.
Welche Botschaft haben Sie an die Opfer von sexualisierter Gewalt?
Ich möchte am liebsten nur schweigen. Viel zu lange haben wird als Kirche bloss Worte gesagt wie: «Ich bin zutiefst betroffen, es ist entsetzlich, ich bin erschüttert.» Solche Worte können Opfer sogar verletzen, vor allem wenn keine Taten folgen. Wir sollten schweigen und die Schuld annehmen. Wir müssen mit dieser Schuld leben und weiterhin auf der Seite der Opfer bleiben. Und konsequent handeln, um die Prävention zu stärken.