Präventionsexpertin Karin Iten verlässt Bistum Chur plötzlich
«Seelsorgerinnen zerbrechen an ihrer Kirche»

Nach drei Jahren kündigt Präventions-Fachfrau Karin Iten (52) beim Bistum Chur. «Die Kernschmelze ist zu weit fortgeschritten», sagt sie im SonntagsBlick-Interview.
Publiziert: 04.06.2023 um 15:25 Uhr
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Karin Iten (52) hat nach drei Jahren als Präventionsbeauftragte des Bistums Chur gekündigt.
Foto: MALI LAZELL
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Raphael RauchBundeshausredaktor

SonntagsBlick: Warum haben Sie gekündigt?
Karin Iten: Mit 52 Jahren muss ich mir überlegen: Wie gehts für mich weiter? Möchte ich bis zur Pension in einem patriarchalen System arbeiten? Meine Antwort lautet: Nein. Ich sehe mich als Feministin. Die katholische Kirche sieht Frauen noch immer als Menschen zweiter Klasse.

Die Spielregeln kannten Sie doch schon vor Ihrem Stellenantritt.
Ja, aber ich habe nun mit eigenen Augen gesehen, wie Seelsorgerinnen in ihrer Würde gedemütigt werden und an ihrer Kirche zerbrechen. Manche können aus Abhängigkeit nicht einfach einen neuen Job suchen und die Kirche hinter sich lassen. Sie lieben ihre Kirche – und werden dennoch kaltschnäuzig ignoriert.

Was haben Sie in den letzten drei Jahren erreicht?
Wir haben im Bistum Chur einen Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht erarbeitet. Es geht um sexuelle und spirituelle Selbstbestimmung. Der Bischof soll sich nicht mehr für das Intimleben der Seelsorgenden interessieren. Egal, ob sie schwul, lesbisch oder geschieden sind. Niemand soll wegen seines Privatlebens erpressbar sein. Aber es gibt noch viel zu tun. Echte Prävention braucht einen Kultur- und Strukturwandel. Solange nur ein kleiner Zirkel von Männern Macht in der Kirche hat, gibts keine zufriedenstellende Prävention.

Damit legen Sie sich mit Rom an.
Und mit katholischen Fundamentalisten, die behaupten, die Kirche irre sich nie. Zum Glück trägt die breite katholische Basis von progressiv bis konservativ die Richtung des Wandels mit.

Was war Ihr Motivationstiefpunkt?
Eine Seelsorgerin hat im Sommer 2022 nach 36 Jahren Arbeit in der Kirche ihren Abschiedsgottesdienst gefeiert. Sie stand um den Altar und hat Worte mitgesprochen, die sonst nur Priester sprechen. Seitdem ermittelt die Amtskirche wegen «liturgischen Missbrauchs». Jahrzehntelang hat die Kirche sexuellen Missbrauch vertuscht. Wenn aber eine Frau mal aufmuckt, wird die Kirche sofort aktiv.

Was empört Sie am meisten?
Die Unehrlichkeit beim Thema Sexualmoral. Ideal und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Ich habe in den letzten drei Jahren viel an Scheinheiligkeit und Verlogenheit erlebt. Ich denke, nicht einmal die Bischöfe tragen die katholische Sexualmoral mit – denn dafür läuft zu viel schief. Aber sie sind nicht bereit, Irrtümer und Sackgassen der Sexualmoral und ihrer Kirche einzugestehen.

Manche Bischöfe in der Schweiz sagen: Wir würden ja gerne, aber uns sind wegen Rom die Hände gebunden.
Damit nehmen sie in Kauf, dass die Kirche unglaubwürdig ist. Was ist das für eine Einstellung als Führungskraft? Die Bischöfe könnten in der Schweiz viel mutiger sein.

Ist die Kirche noch zu retten?
In der Schweiz kann es so nicht weitergehen. Die Kernschmelze ist zu weit fortgeschritten. Die Kirche muss alles tun, damit sie nicht zu einer Sekte wird. Das gehört bei der Prävention auf der Prioritätenliste nach oben.

Im September veröffentlicht die Uni Zürich erste Ergebnisse einer Studie, die den katholischen Missbrauchskomplex aufarbeitet. Werden dann alle Schweizer Bischöfe zurücktreten?
Ich halte wenig davon, zu sagen: Es müssen Köpfe rollen – und damit ist das Problem gelöst. Solange sich das System nicht ändert und einfach nur Menschen ausgetauscht werden, bleibt alles beim Alten.

Die meisten Missbrauchsfälle passieren in Familien, nicht in der Kirche. Kommt Ihnen dieser Aspekt zu kurz?
Missbrauch durchdringt die Gesellschaft und kommt überall vor. Es bringt nichts, wenn die Kirche auf die Familien zeigt, Familien auf Schulen und Schulen auf den Sport. Alle müssen dort handeln, wo sie den grössten Einfluss haben. Die Kirche muss vor der eigenen Türe kehren.

Nicht alle Bistümer in der Schweiz leisten sich eigene Präventionsbeauftragte. Warum nicht?
Offiziell ist Prävention allen wichtig. Doch mit ein paar Schulungen ist es nicht getan. Echte Präventionsarbeit ist sehr unbequem. Und darauf haben nicht alle Schweizer Bischöfe Lust.

Was machen Sie in Zukunft?
Ich werde für eine Kinderschutzorganisation im Asylbereich arbeiten und das Thema Machtmissbrauch weiterbearbeiten. Minderjährige Geflüchtete sind sehr verletzlich. Sie sind vor Übergriffen besonders gefährdet und brauchen maximalen Schutz. l

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