Die cremefarbenen Kutten bei der Erstkommunion, der Religionsunterricht für die Konfirmation, die Sonntage in der Kirche – oder zumindest Heiligabend und Ostern, Heiraten vor Gott, Taufen in der Kirche. Das galt lange als Usus in der Schweizer Bevölkerung. Die einen praktizierten diese Rituale, weil sie gläubig waren, die anderen, weil es sich einfach so gehörte.
Vor 50 Jahren noch zählten fast 100 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer zu den Katholiken und Reformierten. Religionslos? Das war kaum jemand. Doch dann begann der Entfremdungsprozess von der Kirche. Gemäss den neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik ist die Gruppe der Menschen ohne Religionszugehörigkeit in der Schweiz erstmals grösser als jene der Katholiken, die bisher die grösste Religionsgemeinschaft waren. Ohne Religionszugehörigkeit heisst: Sie hatten nie eine Religion, haben sie aufgegeben oder gehören offiziell noch einer an, bezeichnen sich aber lieber als religionslos.
Die Religionslosen sind eine «diffuse» Gruppe
Knapp lässt sich die Gruppe wie folgt charakterisieren: eher urban (in den Kantonen Basel-Stadt und Neuenburg leben die meisten), eher männlich und eher jünger (grösste Gruppe sind die 25- bis 34-Jährigen). Zwei Drittel der Befragten hatten eine Religion und gaben diese im Lauf des Lebens auf.
Diese Vereinfachung wird der Sache aber nicht gerecht. Die Gruppe ist nämlich «sehr diffus». So beschreibt sie Arnd Bünker (54), er ist Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts. Der Katholik erforscht die Entwicklung der Kirchen in der Schweiz. Es gibt innerhalb der Religionslosen eine grosse Vielfalt. Distanziert, spirituell, kritisch (siehe separate Porträts). Bünker sagt: «Früher schauten wir, was in den Kirchen passiert. Heute fragen wir auch: Was passiert bei den Religionslosen?»
Passiert ist bereits Folgendes: Die Weitergabe der Religion wird immer schwieriger. Religionssoziologe Jörg Stolz (56) beschreibt dies so: «Jede Generation ist etwas weniger religiös als die vorherige.» Man sieht dieses Phänomen auch bei den Austritten; Eintritte sind Einzelfälle. Die Kirchenaustritte in der Schweiz befinden sich auf Höchststand. Nach den neusten Missbrauchsfällen, die im September 2023 publik wurden, verliessen so viele Menschen die Kirche wie noch nie. Bünker: «Die Austrittskurve wird sich beruhigen, aber sie wird sich auf einem höheren Niveau stabilisieren als bisher.» Er unterscheidet zwischen kalten und heissen Austritten. Kalt bedeutet: Auf die innere Abkehr von der Kirche folgt die Abwahl der Kirchensteuer. Bei heissen Austritten sind Menschen eigentlich mit der Kirche identifiziert, haben aber wegen der Skandale und der Erneuerungsverweigerung das Vertrauen verloren. Derzeit gibt es viele heisse Austritte.
Der Austritt ist meist der letzte Schritt, die Entfremdung hat schon viel eher stattgefunden. Viele sind de facto noch Mitglied. Stolz nennt sie die «Distanzierten». Sie sind kirchlich sozialisiert worden, haben aber im Alltag keine Berührung mit der Religion.
Das Bedürfnis nach Spiritualität ist gross
Neben der Säkularisierung nimmt auch die Individualisierung zu. Konkret: Der Mensch entscheidet heute selber, was er glaubt. Der Halt in der Kirche geht vielleicht verloren, aber das Bedürfnis nach Spiritualität ist gross. Der Markt boomt. Meditation, Glücksbringer, Wahrsagerinnen, Heiler, Horoskope, Yoga. Ein Drittel der Religionslosen gibt in der Befragung an, eher oder sicher spirituell zu sein. In schwierigen Momenten oder im Fall einer Krankheit spielt für diese Menschen Religion oder Spiritualität eine Rolle. Was Spiritualität bedeute, sei sehr unklar, sagt Stolz von der Universität Lausanne. Man dürfe den Begriff nicht auf die Esoterik verkürzen, auch im Christentum findet er Verwendung.
Die Entreligionisierung läuft gemäss Stolz linear so weiter. Eine Rückkehr der Religion ist nur denkbar, wenn sich eine Gesellschaft fundamental verändere. So wie es etwa in den 90er-Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Eisernen Vorhangs der Fall war. Freie Religionsausübung wurde nach der Selbständigkeit der Republiken und in den postkommunistischen Staaten wieder erlaubt, das gab dort einen Aufschwung der Religiosität.
Und wie sieht das Bünker bei der katholischen Kirche? Sie kann gemäss Bünker nur etwas tun: eine neue Verbindung zu den vielen Distanzierten aufbauen. Ohne die Erwartung zu haben, dass man zu den Mitgliederzahlen von früher zurückkehrt. Er betont, dass sich die Kirche dem gesellschaftlichen Trend der Säkularisierung nicht entgegenstellen kann. «Die Kirche muss akzeptieren, dass sie in Zukunft eine kleinere Gruppe ist.» Und die Gruppe der Religionslosen immer grösser wird.