Medien-Wissenschaftlerin Lisa Schwaiger über Verschwörungs-Mythen
«Es sind kleine Gruppen, aber sie schreien sehr laut»

Verschwörungsmythen rund um Corona haben Hochkonjunktur. Warum dies die gesellschaftliche Ordnung bedroht, sagt Medienprofi Lisa Schwaiger.
Publiziert: 17.10.2021 um 12:12 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2021 um 22:08 Uhr
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Die Medienwissenschaftlerin und Soziologin Lisa Schwaiger befasst sich mit alternativen Nachrichtenmedien und Verschwörungsmythen. Sie sagt: «Lügen, Verschwörungsmythen oder Fake News greifen die soziale Ordnung an. Damit erodiert das Vertrauen in Medien und Institu­tionen. Was wiederum dazu führen kann, dass das Abstimmungs­verhalten der Stimmberechtigten beeinflusst wird.»
Foto: Siggi Bucher
Interview: Sven Zaugg

Frau Schwaiger, auf Telegram und am Stammtisch erzählt man sich Schauermärchen über Impfungen. Sogenannte Massnahmenkritiker werfen dem Bundesrat vor, einen «Deep State» zu errichten, und einzelne Politiker driften in alternative Universen ab. Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Was ist bloss los?
Lisa Schwaiger: Es gibt Anzeichen dafür, dass Lügen und Verschwörungsmythen während der Corona-Krise breiter zirkulieren. Die Lüge im weitesten Sinne hat es aber schon immer gegeben. Wir kennen sie ja auch im privaten Kontext, zum Beispiel die klassische Notlüge.

Wahrscheinlich die liebenswerteste Form der Lüge, aber nicht gefährlich ...
Tatsächlich ist vor allem die Lüge, die öffentlich verbreitet wird, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährlich. Und diese ist in den letzten Jahren augenscheinlicher geworden. Wie auch Verschwörungsmythen.

Nennen Sie ein paar Beispiele.
Dass der Bundesrat einen Impfzwang verordne; dass Journalistinnen und Journalisten Sprachrohre einer elitären Kaste seien und Unwahrheiten verbreiteten; dass via Impfung Mikrochips implantiert würden. Solche Mythen sind gefährlich.

Persönlich

Lisa Schwaiger (31), Soziologin und Medienwissenschaftlerin, ist Postdoktorierende am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) sowie am Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) der Uni Zürich. In ihrer Dissertation beschäftigte sich die gebürtige Salzburgerin mit alternativen Nachrichtenmedien im deutschsprachigen Raum. Sie gehört zum Autorenteam des Jahrbuchs «Qualität der Medien», das in Kürze erscheint.

Lisa Schwaiger (31), Soziologin und Medienwissenschaftlerin, ist Postdoktorierende am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) sowie am Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) der Uni Zürich. In ihrer Dissertation beschäftigte sich die gebürtige Salzburgerin mit alternativen Nachrichtenmedien im deutschsprachigen Raum. Sie gehört zum Autorenteam des Jahrbuchs «Qualität der Medien», das in Kürze erscheint.

Und sie verbreiten sich rasant über die sozialen Medien.
Telegram und andere Kanäle bieten den idealen Nährboden für Fake News und Verschwörungsmythen. In Social Media kann jede und jeder Inhalte verbreiten – was für Demokratien einerseits gut ist, andererseits sehr gefährlich, wenn die Absender den Wahrheitsgehalt der Inhalte nicht verifizieren und falsche oder irreführende Nachrichten verbreiten. Kommt hinzu: Soziale Medien mit ihren Likes emotionalisieren. Man schaukelt sich gegenseitig hoch. Was gelikt wird, wird geteilt. Verschwörungsmythen verbreiten sich leider schneller als Fakten.

Die Lüge als rhetorisches Mittel wurde von «alternativen Fakten» abgelöst. Was passiert mit der Kommunikation, wenn man keine gemeinsame Wahrheit mehr hat?
Wir müssen zwischen Fake News und Verschwörungsmythen unterscheiden. Bei Fake News werden absichtlich falsche Informationen verbreitet, mit dem Ziel, die Empfänger zu manipulieren. In der Wissenschaft sprechen wir hier von Desinformation. Verschwörungsmythen hingegen sind Erzählungen, die davon ausgehen, dass geheime Eliten im Hintergrund die Fäden ziehen. Es kann sein, dass eine manipulative Absicht dahintersteckt; aber auch, dass die Menschen, die solche Mythen in die Welt setzen, wirklich daran glauben.

Was bedeutet das für eine sensible Demokratie wie die Schweiz, die den Stimmberechtigten grosse Macht zuspricht?
Lügen, Verschwörungsmythen oder Fake News greifen die soziale Ordnung an. Damit erodiert das Vertrauen in Medien und Institutionen. Was wiederum dazu führen kann, dass das Abstimmungsverhalten der Stimmberechtigten beeinflusst wird. Eine ausgewogene Entscheidungsbildung ist so nicht mehr möglich. Wenn, wie der Philosoph Jürgen Habermas sagt, die «sanfte Gewalt des besseren Arguments» nicht mehr zieht, polarisiert sich die Gesellschaft.

Wie kann es sein, dass in einem der wohlhabendsten Länder der Welt, in dem die Bevölkerung eine sehr gute Bildung geniesst, Ammenmärchen Hochkonjunktur haben?
Wir leben seit eineinhalb Jahren in einem Krisenmodus, der mit vielen Unsicherheiten behaftet ist. Vielleicht ist sogar die eigene Existenz bedroht. In solchen Situationen sucht man klare Antworten, die in der Realität aber oft schwierig zu finden sind, weil die Welt komplex ist. Die Politik konnte zu Beginn der Pandemie keine eindeutigen Antworten liefern. Auch wissenschaftliche Befunde wurden teilweise mehrmals revidiert, weil dies eben zur Natur der Wissenschaft gehört. In diesen Phasen sind Menschen anfälliger für «alternative Fakten» und Verschwörungsmythen, weil diese vermeintlich einfache Antworten liefern.

Die Schweiz hat eine hohe Übersterblichkeit verzeichnet. Wirtschaftlich ist sie im internationalen Vergleich recht glimpflich durch die Pandemie gekommen. Warum diese Agonie?
Wir müssen die Pandemie als globales Phänomen begreifen. Gerade in den sozialen Medien werden Verschwörungsmythen über die Landesgrenzen hinweg geteilt. Gruppierungen, die jegliche Massnahmen kritisieren, um die Pandemie im Zaum zu halten, vernetzen sich global. Fakt ist: Desinformation und Verbreitung von Verschwörungsmythen sind ein Problem, wir dürfen solchen Gruppierungen aber auch nicht eine allzu grosse Bühne bieten. Es sind kleine Gruppen, die laut schreien, aber nicht repräsentativ für die Gesamtgesellschaft sind.

Als Vertreter der Medien muss ich Sie fragen: Geben wir diesen Gruppierungen eine zu grosse Bühne?
Das lässt sich wohl nicht abschliessend beantworten. Die richtige Balance ist wichtig.

Konkret?
Zwei Sachen: Es braucht Aufklärung. Falschinformationen, die grassieren, müssen die Medien richtigstellen. Dazu reichen einfache Faktenchecks. Da ist noch Luft nach oben. Und: Man darf Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben, nicht verunglimpfen oder ins Lächerliche ziehen. Es war sicher falsch, dass gewisse Medien von «Covidioten» sprachen. So verliert man einen Teil der Gesellschaft.

Wenn man sich anschaut, von wem Fake News und Verschwörungsmythen verbreitet werden, landet man nicht selten im rechtspopulistischen Milieu. Teilen Sie diese Beobachtung?
Da wäre ich vorsichtig. Gerade die Pandemie hat gezeigt, dass die Verbreitung von Mythen nicht so klar einem politischen Lager zugeordnet werden kann. Auch im linken Milieu wurden Verschwörungsmythen verbreitet. Sehen Sie sich die Demonstrationen an: Linke Esoteriker demonstrieren mit Rechtspopulisten Schulter an Schulter. Was stimmt: Bei manchen alternativen News-Portalen lässt sich ein Rechtsdrall erkennen. Staatliche Institutionen und etablierte Medien werden systematisch diskreditiert. Diese Akteure sehen Journalisten, Politiker, Institutionen, die Wirtschaft als Teil eines elitären Systems, das sie unterjocht. Das ist Teil ihres Narrativs.

Machen Sie uns Hoffnung: Wie erreiche ich Menschen, die Verschwörungsmythen auf den Leim gekrochen sind?
Nun, die schlechte Nachricht ist: Menschen, die zu tief drinstecken, sind äusserst schwer zu erreichen. Die gute: Das ist nicht die Mehrheit. Wir sollten uns auf den Teil der Gesellschaft konzentrieren, der zweifelt. Dafür braucht es Empathie. Hören wir denjenigen besser zu, die unsicher sind. Diese Geduld wird sich bei manchen auszahlen.

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