Die Migros kämpft mit einer neuen Diskussionskultur im Netz. Die Tonalität auf Plattformen wie Facebook und Tiktok wird gehässiger. Die User sind für Erklärungsversuche immer weniger empfänglich.
«Es scheint, als wären die Leute dünnhäutiger, und oft wird viel schneller überreagiert», sagt Migros-Sprecher Tristan Cerf zu Blick. «Vieles wird als Angriff auf die eigene Person, Meinung oder Freiheit wahrgenommen.»
Das jüngste Beispiel ist ein Video des Tiktok-Users Besjan I. (30). Normalerweise beschäftigt sich der Kosovare mit schnellen Autos und rauschenden Motoren. Aber wirkliche Aufmerksamkeit erzielte er mit einem Video über eine vermeintliche Betrugsmasche der Migros.
Mythos Obstwaage
Das Video hat bereits rund 100'000 Views. Es zeigt, wie eine Plastikauflage in der Gemüseabteilung der Migros vermeintlich mitgewogen wird. Ohne Plastikauflage kostet ein einzelner Apfel 25 Rappen. Das Gewicht: 98 Gramm. Mit Auflage sind es 204 Gramm. Der Preis: 50 Rappen.
Dabei handelt es sich um einen gängigen Social-Media-Scherz, mit dem die Migros in allen Landesteilen konfrontiert ist, wie Cerf sagt. Wegen eines ähnlichen Videos aus der Westschweiz vom August stellten die Leute sogar Fragen in den Tessiner Filialen. Es wurde auf Facebook publiziert. Die Community hat das Video relativ schnell als Hoax enttarnt, aber bei einigen Usern blieb die vermeintliche Betrugsnachricht hängen.
Der Mythos der mitgewogenen Plastikauflage kursiert schon seit Jahren. Die Migros Waadt hat deshalb bereits 2018 ein Erklärvideo gemacht – damals ging es um Rüebli. Aber insbesondere in Corona-Zeiten, wo sich Teile der Gesellschaft für Verschwörungstheorien besonders empfänglich zeigen, feiert die gefälschte Waage ein Comeback.
Vergifteter Diskurs
Die Migros hat entschieden, auf diese Posts gar nicht mehr zu reagieren, weil die Auseinandersetzung in den sozialen Medien schnell ausarten würde und allenfalls noch weitere Aufmerksamkeit generieren könnte.
«Besonders Diskussionen bezüglich Corona lösen viele und starke Emotionen aus», sagt Cerf. «Dies zeigt sich auch im Diskurs und der damit verbundenen Tonalität in den sozialen Medien.» Der Migros-Sprecher diagnostiziert eine starke Schwarz-Weiss-Denkweise, häufig auch eine Zuspitzung.
Das Ganze dauert schon seit Monaten an. «Wir beobachten seit Beginn der Pandemie eine verstärkte Tendenz zu Fake News», so Cerf. Insbesondere im Fokus: Impfungen und Masken. So kursiert etwa auch die Information, wonach es Ungeimpften in Genf verboten sei, in der Migros einzukaufen. Das ist natürlich falsch.
Pandemie als Brandbeschleuniger
Die Tonalität ist mittlerweile derart giftig – und der ganze Diskurs derart arbeitsintensiv –, dass die Migros nicht mehr aktiv gegen Falschinformationen vorgeht. Sie beobachtet die Dynamik und vertraut auf die Community. Tatsächlich reguliert sich das Netz häufig selbst, und Falschvideos werden als solche entlarvt.
Dominic Stöcklin (38), Experte der Hochschule für Wirtschaft in Zürich, kann das Vorgehen der Migros durchaus nachvollziehen. Er hätte zwar eher zu einem aktiven Vorgehen geraten. Aber er gibt der Migros in einem Punkt recht: Die Pandemie ist Zunder für die Diskussion im Netz. Und das trifft unterm Strich alle.
Scherzvideos waren schon immer ein Teil der Internetkultur, sagt Stöcklin. «Dieses Phänomen trifft aktuell aber auf weitere Beschleuniger wie Fake News und Verschwörungstheorien, was zu zusätzlicher Dynamik führen kann.»