Rund 80 000 Menschen in der Schweiz sind von Epilepsie betroffen. Zwei Drittel der Betroffenen sind bei korrekter Behandlung frei von Anfällen – Medikamenten sei Dank.
Doch an die richtige Arznei zu kommen, ist für Epilepsie-Patienten immer wieder eine Herausforderung. «Gewisse Präparate sind in der Schweiz aktuell nicht erhältlich», sagt Barbara Tettenborn, Präsidentin der Schweizerischen Epilepsie-Liga und Chefärztin Neurologie am Kantonsspital St. Gallen.
Je nach Ausprägung der Krankheit haben solche Lieferengpässe schwerwiegende Folgen. «Wenn Epilepsie-Patienten das Medikament wechseln müssen, erhöht sich das Risiko eines Anfalls – sogar bei Patienten, die zuvor jahrelang von Anfällen verschont geblieben sind», so Tettenborn.
Lieferung von wichtigen Wirkstoffen blieb plötzlich aus
Enea Martinelli ist Chefapotheker der Berner Oberländer Spitalgruppe FMI und Betreiber einer Website, die Arzneimittelengpässe dokumentiert. Er stellt fest: «Die Liste ist schon vor Corona Jahr für Jahr länger geworden. Durch die Pandemie hat sich die Lage aber nochmals verschärft.»
Bedenklich findet Martinelli, dass oft unklar sei, weshalb ein Medikament nicht verfügbar ist. Klar sei einzig, dass Pharmaproduzenten massiv von China abhängig sind. «Im Bereich der Generika, also der günstigen Nachahmerprodukte, stammen über 90 Prozent der Wirkstoffe aus Asien, davon der grösste Teil aus China.»
Axel Müller, Geschäftsführer des Verbands Intergenerika, will das ändern. «Die Corona-Krise hat gezeigt, wie gefährlich diese Abhängigkeit ist. Im Frühling ist die Lieferung von wichtigen Wirkstoffen plötzlich ausgeblieben, gewisse Medikamente und Generika waren nicht mehr erhältlich – und niemand konnte etwas dagegen tun.»
Müller und andere brachten die Versorgungssicherheit aufs politische Tapet. Im Parlament wurden Vorstösse eingereicht, damit lebensnotwendige Arzneimittelwirkstoffe in Zukunft wieder vermehrt in der Schweiz produziert werden – oder zumindest in Europa.
Frankreich will Schmerzmittel lokal produzieren
In unseren Nachbarländern ist mittlerweile schon einiges passiert. So sprach Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Sommer 120 Millionen Euro, damit das Schmerzmittel Paracetamol in Zukunft lokal produziert wird.
Die deutsche Regierung will eine Milliarde Euro bereitstellen, damit das Land in Zukunft bei der Herstellung von Wirkstoffen über grössere Kapazitäten und mehr Unabhängigkeit verfügt. Österreich hat beschlossen, die Novartis-Tochter Sandoz zu subventionieren, damit sie ihre Antibiotikaproduktion in Kundl in Tirol aufrechterhält.
Schweiz arbeitet an einem Versorgungsbericht
In der Schweiz haben es die Behörden deutlich weniger eilig. Das Bundesamt für Gesundheit teilt auf Anfrage mit, man arbeite an einem Versorgungsbericht, in dem auch geprüft werde, welche rechtlichen und ökonomischen Möglichkeiten die Schweiz im internationalen Verbund habe, sich von der Abhängigkeit der Produktion in wenigen asiatischen Ländern zu lösen. Voraussichtliche Fertigstellung des Papiers: 2022.
Eine Revolution dürfte aber auch dann ausbleiben. Das Wirtschaftsdepartement von Guy Parmelin zeigt sich gegenüber Aktionen à la Frankreich, Deutschland oder Österreich skeptisch: «Klassische Industriepolitik ist teuer, wenig effizient und erreicht in der Regel die Ziele nicht.»
Gute Rahmenbedingungen für die Schweizer Wirtschaft seien zielführender, um wichtige Industrien und Lieferketten ins Land zu holen. «Das hat sich in den letzten Jahrzehnten überaus bewährt. Beispielsweise befinden sich bedeutende Pharmaunternehmen sowie impfstoffproduzierende Standorte in der Schweiz.»
Krankenkassenverbände wollen die Medikamentenpreise unbedingt senken
Salvatore Volante ist Geschäftsführer der Interessengemeinschaft (IG) Schweizer Pharma KMU, ein Zusammenschluss von sechs Pharmaunternehmen mit rund 1500 Mitarbeitern, die in der Schweiz produzieren. Er empfindet die Aussagen des Bundes als blanken Hohn: «Für unsere Mitglieder sind die Rahmenbedingungen in der Schweiz alles andere als gut.»
Der Grund: Die Mitglieder der IG stellten relativ einfache und günstige Produkte her, die keine grossen Margen erzielen, zum Beispiel Schmerzmittel, Standardkrebsmittel oder Mittel zur Anästhesie.
Volante: «Das ist zwar wenig spektakulär. Für die Grundversorgung des Schweizer Gesundheitswesens sind diese Produkte aber wichtiger als die High-End-Produkte der grossen Pharmakonzerne.» Das habe die Corona-Krise deutlich vor Augen geführt.
Beim Bund sei diese Information aber offenbar nicht angekommen. «Anstatt den Produktionsstandort Schweiz im Bereich der Grundversorgung zu stärken, sollen die Preise für Generika weiter gesenkt werden», kritisiert Volante.
So riskiere die Politik die «vollständige Vernichtung des Werkplatzes Schweiz im Arzneimittelbereich der Grundversorgung», warnt die IG in einem Brief an Gesundheitsminister Alain Berset.
Dass solche Argumente Gehör finden, scheint jedoch mehr als fraglich. Der Spardruck im Gesundheitswesen ist nach wie vor hoch. Die Krankenkassenverbände wollen die Medikamentenpreise unbedingt senken.
Ohne China geht (noch) nichts
Santésuisse-Sprecher Matthias Müller sagt dazu: «Medikamentenhersteller und -händler spüren keine Corona-Einbusse. Im Gegenteil: Obwohl es leider noch kein Heilmittel für Corona-Kranke gibt, sind die Kosten für Medikamente im Jahr 2020 weiter stark gestiegen.»
Von grundsätzlichen Problemen bei der Grundversorgung will Müller nichts wissen: «Die offizielle Statistik des Bundes zeigt nur punktuelle Engpässe, die sich durch Corona nicht verschärft haben.» Die Situation im letzten Frühjahr sei lediglich entstanden, weil sich viele mit umfangreichen Vorräten eingedeckt hätten. «Das betraf Medikamente aber genauso wie andere Produkte und könnte durch grössere Pflichtlager vermieden werden.»
Auch für den Verband Curafutura sind höhere Medikamentenpreise ein No-Go. «Eine Stärkung der Arzneimittelproduktion in der Schweiz darf ganz bestimmt nicht zulasten der Prämienzahlenden gehen», sagt Sprecher Ralph Kreuzer.
Mit anderen Worten: Die Schweiz dürfte noch ein Weilchen am Tropf Chinas hängen bleiben.