SonntagsBlick: Herr Neuenschwander, Sie haben im Rahmen einer Studie die Herausforderungen und Gelingensbedingungen des Fernunterrichts vom letzten Frühling untersucht. Wie haben die Lehrpersonen diese Zeit bewältigt?
Markus Neuenschwander: Grundsätzlich muss man sagen: Die relativ erfolgreiche Durchführung des Fernunterrichts war nicht zuletzt möglich dank der hohen Flexibilität der Lehrpersonen. Natürlich gab es grosse Unterschiede in der Umsetzung, auch weil es am Anfang wenig Vorgaben gab: Die einen Lehrkräfte haben sich stark engagiert, die anderen haben etwas weniger gemacht. Klar ist, dass der Fernunterricht mit viel zusätzlichem Arbeitsaufwand für die Lehrpersonen verbunden war. Der fehlende direkte Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern war für viele Lehrkräfte eine Herausforderung.
Hat die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Kindern unter dem Fernunterricht gelitten?
Es hat vielleicht eine gewisse Distanzierung gegeben, weil es weniger persönliche Kontakte gab. Und auch eine Verlangsamung im Feedback-Prozess. Wenn vorher Feedback innerhalb einer Stunde gegeben wurde, dauerte das im Fernunterricht manchmal eine Woche. Dabei ist unmittelbares Feedback am sinnvollsten. Auf jeden Fall hat man gemerkt: Die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Kindern, allgemein soziale Beziehungen, sind im Schulumfeld sehr wichtig – auch in einem digitalen Kontext.
Welche anderen Konsequenzen aus dem Fernunterricht gibt es?
Einerseits natürlich den stärkeren Fokus auf die Digitalisierung. Andererseits, dass das selbständige Lernen in Zukunft mehr Gewicht bekommen könnte. Und dann ist auch die Chancengleichheit als Thema wichtiger geworden. Es ist zentral, dass diese aufs Tapet kommt, denn in der Schweiz wird die Chancengleichheit nicht immer umgesetzt. Schon vor dem Fernunterricht, jetzt möglicherweise noch etwas mehr.
Wie schätzen Sie den Zustand der Lehrkräfte nach über einem Jahr Pandemie aktuell ein?
Es gibt sicher Mehrfachbelastungen. Zusätzlich zu den hohen Erwartungen, die schon vorher an die Lehrkräfte gestellt wurden, ist jetzt noch die Pandemie da, die alles umständlicher und komplizierter gemacht und den Druck erhöht hat. Während des Fernunterrichts zeigte man noch ein gewisses Verständnis und sprach manchmal von Entschleunigung. Das ist jetzt nicht mehr so.
Sondern?
Jetzt ist die Aussage eher: Wir müssen wieder einen guten Unterricht haben, die Kinder müssen etwas lernen – und das Schutzkonzept ist halt auch noch da. Damit kommt eine weitere Belastung dazu. Und durch die Isolation, die wir in dieser Pandemie erleben, gibt es bei manchen Lehrkräften eine höhere Empfindlichkeit.
Hat das nicht auch einen negativen Effekt auf den Unterricht und die Kinder?
Solange die Belastung schwach bis mittel ist, nicht, nein. Aber wenn Lehrkräfte stark belastet, ausgebrannt oder gar Burn-out-gefährdet sind, dann hat das einen negativen Effekt auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler. Ist das Belastungsmass zu hoch, können Lehrkräfte die Kinder nicht mehr sensibel wahrnehmen, ihnen keine angemessenen Rückmeldungen mehr geben und sie nicht mehr angemessen fördern und beurteilen.
Markus Neuenschwander (55) ist Professor für Pädagogische Psychologie, unterrichtet Erziehungswissenschaft an der Universität Basel und leitet das Zentrum Lernen und Sozialisation an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Dort führte er gemeinsam mit anderen Forschenden eine Studie zum Fernunterricht im Frühling 2020 durch.
Markus Neuenschwander (55) ist Professor für Pädagogische Psychologie, unterrichtet Erziehungswissenschaft an der Universität Basel und leitet das Zentrum Lernen und Sozialisation an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Dort führte er gemeinsam mit anderen Forschenden eine Studie zum Fernunterricht im Frühling 2020 durch.