Händewaschen, Desinfektion, Berührungen vermeiden. Das Coronavirus hat uns zu Hygiene-Fanatikern gemacht. Weil sich Erkältungen und Grippe über kontaminierte Oberflächen ausbreiten können, dachte man, dass sich das Coronavirus ähnlich verhalten könnte.
Wissenschaftler sagen nun, dass sich das Virus jedoch in erster Linie durch eingeatmete Tröpfchen verbreitet und dass es wenig Hinweise darauf gibt, dass die Reinigung von Oberflächen die Bedrohung in Innenräumen mindert. Kevin P. Fennelly, Spezialist für Atemwegsinfektionen bei den United States National Institutes of Health, sagt laut «The New York Times»: «Meiner Meinung nach wird viel Zeit, Energie und Geld für die Oberflächendesinfektion verschwendet und, was noch wichtiger ist, die Aufmerksamkeit und Ressourcen von der Verhinderung der Übertragung über die Luft abgelenkt.»
Forderung nach geänderten Massnahmen
Experten wie Fennelly halten Gesundheitsbehörden dazu an, sich auf die Verbesserung der Belüftung in Innenräumen und auf die Filterung der Raumluft zu konzentrieren. In überfüllten Büros, öffentlichen Verkehrsmitteln oder Flughäfen sei das Virus, das von infizierten Menschen ausgeatmet wird und in der Luft verweilt, eine viel grössere Bedrohung als kontaminierte Geländer, Schalter oder Türklinken.
Untersuchungen haben zwar ergeben, dass das Coronavirus auf einigen Oberflächen, darunter Plastik und Stahl, bis zu drei Tage lang zu überleben schien. Laut «The New York Times» hätten spätere Studien jedoch gezeigt, dass es sich bei einem Grossteil davon wahrscheinlich um tote Virusfragmente handelt, die nicht infektiös sind.
Lehren aus vergangener Sars-Epidemie
Mikrobiologe Emanuel Goldman von der Rutgers-Universität in New Jersey erklärte bereits im Juli, dass das Risiko einer Coronavirusinfektion auf Oberflächen überschätzt wird. In einem Artikel in der medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» kritisierte er, dass Studien über die Sars-Epidemie in den Jahren 2002 und 2003 zu wenig Beachtung geschenkt werde. Diese zeigen laut Goldman, dass die Übertragung durch kontaminierte Oberflächen zumindest beim ursprünglichen Sars-Virus höchstens eine sehr kleine Rolle spielte. Dem Mikrobiologen zufolge gibt es keinen Grund zu erwarten, dass sich das verwandte Sars-Cov-2-Virus, das die heutige Pandemie antreibt, anders verhalten würde.
Viren werden durch Aktivitäten freigesetzt, bei denen feinste Atemtröpfchen, auch Aerosole genannt, versprüht werden: Sprechen, Atmen, Schreien, Husten, Singen und Niesen. Experten äussern sich deshalb besorgt darüber, dass sich das Coronavirus in der Luft auch durch Klimaanlagen und Lüftungen in Büros und anderen Innenräumen verbreiten könnte und weisen auf die zentrale Rolle von Masken bei der Eindämmung der Pandemie hin. Yeung King-lun, Professor für chemisches und biologisches Ingenieurwesen an der Hong Kong University of Science and Technology, bringt die Problematik auf den Punkt: «Die Luft, die Sie einatmen, ist im Grunde genommen Gemeinschaftsluft.»
Und trotzdem: Obwohl sich die Viren vor allem via Luft übertragen raten die Forscher nach wie vor, sich regelmässig gründlich die Hände zu waschen. (noo)
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