Diyar F.*, Jamilia N.* und Sezgin Dag flohen in den letzten paar Jahren in die Schweiz, weil ihr Leben in der Heimat bedroht war. Sie kamen als Asylsuchende im Kanton Bern unter. Nun sind sie tot. Angehörige und Mitbewohner klagen an: Sie seien dem Spardruck zum Opfer gefallen.
Diyar F. (†50), Gurnigelbad BE, Herzinfarkt
Ein ehemaliges Hotel am Hang des Gurnigelbergs, 10 Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt: Hier leben im Herbst 2023 etwa 110 Flüchtlinge. Unter ihnen der 50-jährige Diyar F. aus der Türkei.
26. September 2023, Mittagszeit: Diyar F. bricht im Korridor des Erdgeschosses zusammen. Asylsuchende und Betreuerinnen eilen herbei. Er kommt wieder zu sich, will an die frische Luft. Wenige Schritte draussen – wieder kollabiert er. Herzstillstand. Videos zeigen, wie zwei Angestellte sein Herz massieren. Die Ambulanz braucht 20 Minuten. Diyar F. wird für tot erklärt.
Asylsuchende aus seinem Umfeld erzählen, Diyar sei praktisch bettlägerig gewesen. «Er stank nach Urin, weil er nicht die Kraft hatte, alleine aufzustehen und aufs WC zu gehen», erzählt Mitbewohner Ahwan S.*. Er hätte Alkohol getrunken, um sich zu betäuben. Ums Essen hätte er sich selbst kümmern müssen, doch dazu sei er nicht in der Lage gewesen. «Eigentlich hätte er eine 24-Stunden-Betreuung gebraucht», so S. Aber nur alle 14 Tage kommt ein Arzt vorbei. Zwei Tage vor seinem Tod habe Diyar F. bereits einen ersten Herzinfarkt gehabt, so S. Nach der Behandlung im Spital kam er ins Zentrum zurück.
Betreiberin der Unterkunft ist das Schweizerische Rote Kreuz Bern (SRK). Knapp drei Monate vor dem Todesfall hatten Aktivisten der lokalen Solidaritätsgruppe «Gurnigelbad» in einem Brief ans SRK die unzureichende Gesundheitsversorgung kritisiert: Medizinische Untersuchungen und Behandlungen ausserhalb der spärlichen Arztbesuche würden den Bewohnern verwehrt. Das SRK wies den Vorwurf zurück.
Das SRK bestätigt zwar, dass der Verstorbene gesundheitliche Probleme hatte. «Es gab jedoch keine ärztliche Indikation, dass der Klient in eine Institution hätte verlegt werden müssen», so Sprecher Eric Send. Die internen Prozesse habe man überprüft und kein Fehlverhalten feststellen können.
Jamilia N. (†38), Büren an der Aare BE, Mord
Familie N.* aus Afghanistan zieht Anfang 2022 ins Flüchtlingsheim Büren an der Aare. Mutter Jamilia und ihre Kinder leben zurückgezogen, isoliert. Ihr Mann ist aggressiv, erzählen mehrere Bewohnende.
Jamilia sei geschlagen worden, hätte sich bei der Zentrumsleitung gemeldet. Ihr Mann war eifersüchtig, drohte ihr mit dem Tod, heisst es später in den Untersuchungsakten. Ein Zimmernachbar erzählt: «Eines Nachts hörte ich Schläge und ein Poltern. Ich rief den Nachtwächter. Er ging los und sprach mit Jamilias Mann, der ihn beschwichtigte. Dann ging der Wächter wieder, ohne nach Jamilia und den Kindern zu fragen.» Einen Polizeieinsatz gibt es nicht, die Familie wird auch nicht getrennt.
Rund 10 Tage später tötet ihr Mann Jamilia im Blutrausch. Mit 165 Messerstichen – vor den Augen der gemeinsamen Kinder.
Betreiberin dieser Unterkunft: ebenfalls das Rote Kreuz. Sprecher Eric Send sagt: «Erfahren Mitarbeitende, dass konkrete Bedrohungssituationen vorliegen, wird reagiert.» Warum die Angestellten bei Jamilia trotz Warnung nicht reagiert haben, beantwortet er nicht. Stattdessen: «Die interne Analyse des Vorfalls hat ergeben, dass richtig gehandelt wurde.»
Ein Bewohner der SRK-Unterkunft in Büren an der Aare berichtet, es seien sämtliche Beschäftigungsangebote geschlossen worden: Sportplatz, Computerraum, Werkstatt, Hühnerstall – und stattdessen die Betten aufgestockt.
Vor sechs Jahren hat der Kanton Bern die Unterbringung von Asylsuchenden an Private abgegeben. Im Auswahlverfahren dieser «regionalen Partner» wurden die günstigsten Anbieter berücksichtigt, wie ein Beschwerdeentscheid der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion bestätigt. So gewichtete der Kanton den angegebenen Preis pro Asylsuchenden mit 35 Prozent am höchsten. Die Erfahrung mit Asylsuchenden war mit 5 Prozent der am wenigsten gewichtete Faktor.
Eine Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) hält fest: «Gewalttaten in den Kollektivunterkünften werden vom Betreuungspersonal oft nicht bemerkt, oder es wird aus Mangel an Beweisen oder aus Überforderung des oft ungenügend qualifizierten und/oder unterstützten Betreuungspersonals nicht darauf reagiert.»
Die in der Studie befragten Fachpersonen, Zentrumsleitenden und Angestellten gingen von «hohen bis sehr hohen Opferraten» unter Frauen und Mädchen im Asylbereich aus. Die kantonalen Asylbehörden dagegen schätzten diese Rate mehrheitlich als niedrig ein, heisst es weiter.
Sezgin Dag (†41), Lyss BE, Herzinfarkt
In seiner Heimat Türkei wurde Sezgin Dag bei einem Terroranschlag verletzt. Ein Bombensplitter steckt seither zwischen Herz und Lunge. Einen Herzinfarkt hatte er bereits hinter sich, als er flieht und im August 2020 im Asylzentrum Lyss BE ankommt. Seine Erkrankung meldet er den Behörden.
12. November 2020: Sezgin Dag klagt über Brustschmerzen und Taubheitsgefühle in den Armen. Im Spital wird er untersucht und zurückgeschickt. Seine Schmerzen werden schlimmer, er meldet sich erneut bei den Betreuenden. Er habe bereits Schaum vor dem Mund gehabt, heisst es in einer Pressemitteilung seiner Familie. Doch statt der Ambulanz rufen die Betreuenden ein Taxi. Sezgin Dag stirbt noch auf der Fahrt. Eine Untersuchung wird zunächst eingeleitet – das Verfahren jedoch eingestellt. Familie Dag zieht den Entscheid weiter. Das Bundesgericht muss nun den Fall beurteilen.
Verantwortlich für die Asylunterkunft Lyss ist die ORS-Gruppe mit Sitz in Zürich: Die Aktiengesellschaft macht ihr Geld mit dem Betrieb von Flüchtlingsunterkünften vor allem in der Schweiz. 2,5 Millionen Franken Gewinn machte sie laut Geschäftsbericht im Jahr 2021. Im Jahr darauf eröffnete die Firma 29 weitere Asylzentren. Ihren Gewinn kommuniziert sie seitdem nicht mehr.
Zum konkreten Todesfall Sezgin Dag will sich die ORS-Gruppe nicht äussern. Sie betont aber: «In der Betreuung und Gesundheitsversorgung hat das Wohlergehen der Bewohnenden höchste Priorität.»
Klar ist: Bei der Unterbringung von Geflüchteten geht es um viel Geld – es gibt Gewinnbestrebungen wie beim profitorientierten ORS und Spardruck beim SRK, das die Unterkünfte kostendeckend bewirtschaften will.
Die Familien und Bekannten von Diyar, Jamilia und Sezgin sind überzeugt, dass ihr Tod hätte verhindert werden können. Sie hoffen, dass zumindest im Nachhinein Massnahmen ergriffen würden, um solche Fälle in Zukunft zu verhindern.
*Namen der Redaktion bekannt
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