Ignazio Cassis selber zog den Stecker
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Der SonntagsBlick auf Blick TV:Verhandlungsabbruch Rahmenabkommen

Knall beim Rahmenvertrag
Cassis selber zog den Stecker

Aussenminister Ignazio Cassis beantragte den Übungsabbruch beim Rahmenvertrag. In der Nacht zuvor griff Bundespräsident Parmelin zum Telefon. Was bleibt: Eine bittere Rivalität im Bundesrat.
Publiziert: 30.05.2021 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 01.06.2021 um 15:28 Uhr
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Karin Keller-Sutter, Guy Parmelin und Ignazio Cassis verkünden am Mittwoch das Aus des Rahmenvertrags.
Foto: keystone-sda.ch
Simon Marti und Reza Rafi

Manche Daten haben sich ins politische Gedächtnis der Schweiz eingebrannt: der 6. Dezember 1992 zum Beispiel, als der EWR-Beitritt verworfen wurde. Der 12. Dezember 2007, Christoph Blochers Abwahl aus dem Bundesrat. Oder der 9. Februar 2014, als die Masseneinwanderungs-Initiative durchkam.

Jetzt ist der 26. Mai 2021 hinzugekommen: Am Mittwoch beerdigte der Bundesrat nach siebenjährigen Verhandlungen das Institutionelle Rahmenabkommen (Insta) mit der EU.

Ohne Parlament und Volk einzubeziehen, aber im Einklang mit der Verfassung.

Recherchen von SonntagsBlick zeigen, wie dieses Husarenstück zustande kam.

Aussenminister Ignazio Cassis selbst war es, der im Kollegium den Antrag auf Abbruch stellte – jener Bundesrat also, der noch bis vor kurzem den Fürsprecher des Abkommens gab, der das Dossier seit seiner Wahl 2017 der Öffentlichkeit verkaufen musste, der die Verhandlungen verantwortete und das diplomatische Personal dafür bestimmte.

Tags zuvor, spätabends um 23 Uhr, griff Bundespräsident Guy Parmelin zum Telefon und versuchte vergeblich, Ursula von der Leyen zu erreichen. Die EU-Kommissionspräsidentin wusste nicht, worum es geht, und wollte sich am Mittwoch zurückmelden. Schon war das Narrativ der beleidigten Frau in Brüssel geboren, die keine Zeit für die Schweiz hat. Diese Version wird zumindest in EU-Kreisen kolportiert.

Cassis hätte verzichten können

Für die Europapolitik ist der Aussenminister zuständig. Darum sei er es gewesen, der den Antrag einreichte, lautet die lapidare Erklärung in der Bundesverwaltung. Wahr ist: Jeder der sechs anderen hätte den Antrag ebenfalls einreichen können. Und: Cassis hätte auch darauf verzichten können, den Antrag einzureichen.

Nach seinem Entscheid erhält der Freisinnige – nicht zum ersten Mal seit seiner Wahl in die Regierung – viel Applaus aus dem Lager der Rechtskonservativen. Von «Weltwoche»-Chef Roger Köppel bis zu SVP-Patron Blocher wird dem Tessiner zugejubelt.

Der Coup, den Biden-Putin-Gipfel nach Genf geholt zu haben, geht ebenfalls aufs Konto des Aussenministers. Cassis, einst von SP-Präsident Christian Levrat als «Praktikant» abgekanzelt, ist plötzlich der Mann der Stunde.

In jedem Fall markiert der Schlussstrich unter das Insta für den Aussenminister das vorläufige Ende einer schlingernden Reise durch die Niederungen Bundesberns. Erst irritierte Cassis Freund und Feind mit seiner Aussage über den «Reset»-Knopf, dann brüskierte er die Linke, als er bei den flankierenden Massnahmen «kreative Lösungen» forderte.

«Er hat seinen Kopf verloren», schnödete der damalige Gewerkschaftschef Paul Rechsteiner 2018. Nun aber hat Gewerkschaftsschreck Cassis den grössten Gefallen vielleicht ausgerechnet den Arbeitnehmervertretern getan, die sich bedingungslos gegen das Abkommen stellten – obwohl nicht auszuschliessen ist, dass der Bundesrat auch ohne Druck der EU Aufweichungen beim Arbeitnehmerschutz plant.

Mit seiner Aktion hat sich der EDA-Vorsteher noch auf einem ganz anderen Feld wichtige Punkte geholt: Im Kampf mit seiner freisinnigen Rivalin Karin Keller-Sutter. «Das neue Sünneli der SVP», titelte SonntagsBlick nach Cassis’ Wahl in den Bundesrat 2017. Die Zeile ist gut gealtert: Cassis ist der Strahlemann, während Keller-Sutter – so etwas ist nur in der Politik möglich – für die SVP seit einiger Zeit als Buhfrau gilt.

Keller-Sutter und die Unionsbürgerrichtlinie

Und als wäre das nicht Ironie genug, war es Keller-Sutter, die im Bundesrat schon früh gegen den Rahmenvertrag Position bezog – damals sehr zum Leidwesen ihres Parteikollegen Cassis.

Keller-Sutter war insbesondere die im Abkommen gar nicht erwähnte Unionsbürgerrichtlinie ein Dorn im Auge. Der Ostschweizerin graute vor der Vorstellung, sie in einer Volksabstimmung vor der gnadenlosen Kritik der SVP verteidigen zu müssen.

Wie sich die Zäsur vom Mittwoch auf die Chancen der beiden FDP-Vertreter auf eine Wiederwahl in zwei Jahren auswirken wird, bleibt Spekulation. Sicher ist: Ausgerechnet die Bundesräte jener Partei, die noch vor zwei Jahren zum Insta «Ja aus Vernunft» sagte, haben das Vertragswerk Seite an Seite mit SVP-Mann Parmelin gebodigt.

Und beide taten es aus dem gleichen Grund: Um nach rechts keine offene Flanke zu bieten. Klar ist: Sowohl Ignazio Cassis wie auch Karin Keller-Sutter haben sich am Mittwoch für den 13. Dezember 2023 in Stellung gebracht – den Tag der nächsten Gesamterneuerungswahl für den Bundesrat.

Je nach Ausgang der vorhergehenden Parlamentswahlen muss sich die FDP darauf gefasst machen, dass sie einen ihrer beiden Sitze in der Landesregierung verliert.

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SP aus der Schusslinie

Im Windschatten des innerfreisinnigen Duells fuhren auch die beiden Magistraten der SP einen Schlingerkurs. Jahrelang, sogar als Bundespräsidenten, blieben Simonetta Sommaruga und Alain Berset in diesem Schlüsseldossier still – wohlwissend, dass sich die Genossen daran nur die Finger verbrennen könnten. Ob Europhile oder Gewerkschafter – einer der Parteiflügel musste zwangsläufig den Kürzeren ziehen.

Auf der Zielgeraden legten die Sozialdemokraten noch eine Extraperformance für die Galerie hin. Sommaruga, so heisst es in Bundesbern, plädierte an der Seite von Mitte-Magistratin Viola Amherd für eine «Softlandung», also für Weiterverhandeln und auf Zeit spielen. Ihre Rechnung ging auf: Die vier SVP- und FDP-Bundesräte überstimmten sie.

Als es zum Knall kam, waren die SP-Vertreter aus der Schusslinie.

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