Ein warmer Septembermorgen im Sankt-Gallischen, die Sonne scheint. «Darf ich jetzt noch Läderach-Schoggi kaufen?», fragt eine Frau ihren Begleiter. Er zuckt die Schultern: «Die Jungen können ja nichts dafür …» Die beiden sitzen vor der Bäckerei im Dorfkern von Kaltbrunn SG und trinken Kaffee. Noch immer ist der Schoggi-Konzern Läderach Gesprächsthema Nummer eins im Dorf.
Der Grund: Vor gut einer Woche berichteten Opfer in einem Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens von Missbrauch und Gewalt, die sie an einer Evangelikalen Privatschule in Kaltbrunn erfahren hatten. Auch von Zwangsheirat und einer vertuschten Vergewaltigung ist die Rede.
Die «christliche Schule Linth», früher «Domino Servite» genannt, gehört zur Evangelischen Gemeinde Hof Oberkirch. Jürg Läderach, damals noch Chef des gleichnamigen Schoggi-Unternehmens und Mitbegründer der Privatschule, war in der Glaubensgemeinschaft als Laienprediger tätig. Auch er soll zu den Tätern gehört haben. Läderach bestreitet die Vorwürfe.
Etwas abgelegen thront der Hof Oberkirch auf einem Hügel oberhalb des langgestreckten Dorfs. Das Gut besteht aus einem Bauernhof und mehreren Gebäuden. Mittendrin steht das rosarote Schulhaus, in dem der Missbrauch stattgefunden haben soll.
Es ist wohl auch diese Abgeschiedenheit, die dazu beigetragen hat, dass es nicht viele Berührungspunkte zwischen den Dorfbewohnern und der Gemeinschaft gibt. So sieht es zumindest Werner Gantenbein, der seit 1987 in Kaltbrunn lebt. «Ich habe nicht viel mitbekommen, von dem, was da oben läuft. Die Leute kenne ich nicht wirklich.»
Obwohl man offenbar eher nebeneinander her lebte, waren die Schule und die Glaubensgemeinschaft immer wieder Thema im Dorf und in der Region. Das schreibt Kaltbrunns Gemeindepräsidentin Daniela Brunner auf Anfrage von SonntagsBlick. «Doch von reinen Spekulationen und Gerüchten halte ich nichts, ich orientiere mich gerne an Fakten», sagt sie.
Die meisten Taten sind verjährt
Die Fakten sind seit Juli 2022 bekannt. Seitdem liegt ein unabhängiger Untersuchungsbericht vor, der zahlreiche Fälle von Missbrauch in der Evangelikalen Gemeinschaft aufdeckte. Die Staatsanwaltschaft handelte dennoch nicht, weil die meisten Vorwürfe verjährt waren und Täternamen fehlten. Das könnte sich mit dem Dokumentarfilm nun ändern.
Überraschend findet Nachbar Werner Gantenbein nicht, was «dort oben» passiert ist. Und er bestätigt, dass es Gerüchte gab: «Man hat schon vermutet, was da im Namen Gottes abgeht.»
Man habe geahnt, dass die Kinder «unter der Knute seien», meint auch ein Dorfbewohner, der schon mehr als 40 Jahre in Kaltbrunn lebt. Nur «nicht in diesem Ausmass». Der Dok-Film habe ihn betroffen gemacht.
Auch dieser Kaltbrunner gibt an, die Gemeinschaft sei grösstenteils unter sich geblieben. So spielten etwa deren Kinder nie mit Kindern aus dem Dorf. Die Kleinsten seien aber am meisten aufgefallen. Vor allem die Mädchen: «Die trugen immer Röcke», sagt er.
Der Hof der Gemeinschaft war den Dorfbewohnern suspekt
Klare Worte findet eine Frau aus dem Nachbardorf, die in Kaltbrunn arbeitet: «Man wusste schon immer, dass das eine Sekte ist», sagt sie, und zieht an ihrer Zigarette. Bevor der Hof von der Gemeinschaft übernommen wurde, sei sie oft mit ihren Kindern hingegangen, um die Tiere dort zu streicheln. Das sei danach nicht mehr möglich gewesen. Und etwa seit dieser Zeit hätten auch Warnungen kursiert. Den Mädchen habe man gesagt: «Fang ja nichts mit einem Höfler an.»
Ein Bewohner, der im Dorfkern vor der Migros steht, will sich zunächst nicht zu diesem Thema äussern. Doch dann sagt auch er, dass hinter vorgehaltener Hand über «die Sekte» gesprochen worden sei. Die neue Läderach-Generation könne jedoch nichts für die Taten des Vaters: «Dieses Läderach-Bashing finde ich doof.»
Gemeindepräsidentin Brunner fügt noch an, der Film habe sie betroffen gemacht und aufgewühlt. «Die Vorstellung, dass man physische und psychische Gewalt als Erziehungsmassnahme bei Kindern einsetzte, ist furchtbar.» Sie betont aber, dass die Untersuchung für sie ein Indiz für den Willen der neuen Schulleitung sei, den Prozess der Aufarbeitung seriös anzugehen.
«Dennoch ging es sicherlich vielen Kaltbrunnerinnen und Kaltbrunnern ähnlich wie mir, viele Fragen bleiben offen», so Brunner. Die ganze Wahrheit darüber, was «dort oben» genau geschah, werden die Dorfbewohner wohl nie erfahren.