Maria H.* (40) aus dem Zürcher Oberland ist in einer fundamentalistisch-christlichen Gemeinschaft aufgewachsen. Ihre Eltern waren darin leitende Mitglieder. Sie nahmen das Wort Gottes ernst und richteten ihr ganzes Leben danach – auch die Erziehung ihrer drei Töchter. «Körperstrafen, seelischer Missbrauch und Einschüchterungen waren in unserer Glaubensgemeinschaft normal», sagt H. zu Blick. «Auch ich habe Schläge erlebt.»
Sie erinnert sich: «Schläge gab es jeweils im Bad auf den nackten Po – mit der Hand, mit der Rührkelle oder dem Teppichklopfer. Als ich älter wurde, erlebte ich vorwiegend psychische Gewalt. Man isolierte oder ignorierte mich. Für mich war das fast schlimmer.»
Offenes Geheimnis
Durch die Berichterstattung der letzten Tage rund um die Freikirche in Kaltbrunn SG und die dazugehörige Schule samt Internat sei sie getriggert und in ihre eigene Herkunft zurückversetzt worden. Denn: Kurz nach der Eröffnung besuchte H. als Dreizehnjährige die Schule selbst für ein Zwischenjahr. «Man schlug mich nicht.» Aber: «Die Schüler munkelten auch im ersten Jahr schon über Schläge. Es war ein offenes Geheimnis.»
Ihre Gemeinschaft sei damals im regen Austausch mit derjenigen in Kaltbrunn gestanden, so H.: «Wir besuchten gegenseitig die Predigten. So konnte ich auch schon Jürg Läderach zuhören.» Die beiden Gemeinschaften seien sich in ihren Strukturen sehr ähnlich gewesen: «Beide hatten sektenähnliche Züge. Beide nahmen das Wort Gottes als die einzige Wahrheit an.»
Wortwörtliche Übernahme
Ausgehend von der Bibel seien auch die Kinder erzogen worden. «Die Mitglieder übernahmen die Stellen wortwörtlich. Die Züchtigung war ein Teil davon.» Das Ziel der strengen Erziehung: Das Kind für Gott vorbereiten, damit es ihm dienen kann. «Es wurde bedingungsloser Gehorsam erwartet. Gegenüber den Eltern, gegenüber Gott», führt H. aus. «Gleichzeitig wollen die Eltern selbst Gott bedingungslos dienen, also hinterfragen sie die Praktiken innerhalb der Gemeinschaft oder all die Bibelverse nicht.»
So sei die Eltern-Kind-Beziehung von Anfang an gekappt worden. Die Kinder habe man schreien lassen, ihnen Nähe verweigert und sie körperlich gezüchtigt.
Mobbing und Suizidgedanken
Durch die erlebte Gewalt habe H. als Teenager Suizidgedanken gehabt – auch weil andere Schüler sie in der Schule gemobbt hätten: «Ich sah eben anders aus. Wir hatten in unserer Gemeinschaft Kleidungsvorschriften. Frauen trugen lange, aber niemals offene Haare sowie lange Röcke und die Oberteile mussten die Schultern bedecken. Schmuck und Schminke waren nicht erlaubt.»
Der Wendepunkt sei nach der Schule erfolgt: «Ich machte ein sogenanntes Haushaltslehrjahr in einer ganz normalen Familie. Es war bis dahin das schönste Jahr in meinem Leben. Ich lernte eine völlig neue Welt kennen.» Auch die darauffolgende Lehre als Pflegefachfrau sei für sie folgenreich gewesen: «Ich lernte, selbst zu denken, andere zu hinterfragen. Gleichzeitig kam ich mit Urvertrauen und der Bindung in Berührung.»
Viel aufgearbeitet
Immer mehr habe sie sich von ihrer Gemeinschaft entfernt. Als sie im Alter von 22 Jahren erstmals Mutter geworden sei, habe sie gemerkt, dass sie diese Welt für ihr Kind nicht wollte: «Ich wollte eine Bindung zu meiner Tochter und eine liebevolle Erziehung. Doch das war in diesem Umfeld langfristig nicht möglich.»
Also seien sie und ihr Ex-Mann innerhalb der Glaubensgemeinschaft immer selbstbewusster ihren eigenen Weg gegangen. «Das blieb nicht ohne Folgen und die Gemeinschaft veränderte sich», sagt die heute dreifache Mutter. «Der endgültige Schnitt kam 2017. Ich merkte damals, dass ich Distanz brauchte, um das Erlebte zu verarbeiten.»
Obwohl sie viel Aufarbeitungsarbeit geleistet habe, habe sie auch heute noch mit den Folgen der physischen und psychischen Gewalt zu kämpfen: «Das Erlebte fällt mir immer wieder vor die Füsse. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass es in Ordnung ist, ich selbst zu sein. Das konnte ich lange nicht», sagt sie. «Aber ich bin stolz darauf, dass ich diese Strukturen durchbrochen habe und meinen eigenen Weg gegangen bin.»
Inzwischen habe sich ihre ehemalige Gemeinschaft zum Positiven gewandelt – und auch ihre Eltern. «Als Familie konnten wir alles aussprechen und haben eine sehr schöne Beziehung. Für mich ist das ein sehr wichtiger Erfolg.»
*Name bekannt