Das Unterengadin ist nicht das Ende der Welt. Doch für den Zug ist Scuol Endstation.
Das Münstertal weiter südlich ist sogar noch schlechter dran: Hier gibt es nirgendwo Schienen, also auch keine Verbindung ins italienische Südtirol, in die Lombardei oder nach Österreich.
Das sei ein Unding, meint der Anwalt Dario Giovanoli (39): «Die lokale Bevölkerung sieht nicht ein, wieso die Bahnlinie im Unterengadin einfach endet. Das ist ein Relikt aus dem frühen 20. Jahrhundert, als der Bau der Anschlusslinie wegen des Ersten Weltkrieges unterbrochen und nie mehr fortgesetzt wurde.»
Giovanoli ist Präsident des Fördervereins Pro Alpenbahnkreuz Terra Raetica, der eine Anbindung Graubündens an das internationale Schienennetz und den Ausbau des öffentlichen Verkehrs im Länderdreieck Schweiz-Italien- Österreich fordert.
Auch in den Nachbarregionen gibt es Vereine mit diesen Zielen. Im Juli riefen alle gemeinsam ihre Regierungen dazu auf, bis Ende Jahr zu entscheiden, welche Projekte in Angriff genommen werden sollen.
Aus Bündner Sicht steht die Bahnverbindung Scuol–Mals im Vordergrund. «Der Kanton Graubünden steht politisch hinter dem Vorhaben», sagt Regierungspräsident Mario Cavigelli (55). Cavigelli verspricht sich von dem Tunnel eine bessere Verkehrserschliessung in Engadin und Münstertal, besseren Personen- und Warenverkehr mit dem grenznahen Ausland – und grosses touristisches Potenzial: «Wenn man das Rhätische Dreieck von einer überregionalen oder gar europäischen Warte aus anschaut, so stellt man fest, dass es eigentlich um die Schliessung der letzten Verbindungslücke im Korridor zwischen Paris und Venedig geht. Das könnte dem Tourismus einen veritablen Schub geben.»
Die Schweiz entscheidet 2029
Zur Finanzierung ist man auf Bern angewiesen. Der Kanton hofft, vom Strategischen Entwicklungsprogramm (STEP) Bahninfrastruktur für die Jahre 2040 bis 2045 profitieren zu können. Dabei steht man allerdings in direkter Konkurrenz mit anderen Eisenbahnprojekten – vor allem in dicht besiedelten Gebieten der Schweiz.
Doch nicht nur in Bern wird für das Projekt geweibelt. Die Region Südtirol buhlt um Fördergelder der EU für den Ausbau der Eisenbahnverbindungen dorthin. Wenn Brüssel hilft, dürfte auch Bern eher zur Unterstützung bereit sein.
In der Schweiz soll der Entscheid auf Bundesebene etwa 2029 erfolgen. Rechnet man vier bis acht Jahre für die Projektierung hinzu, kann mit einem Baubeginn frühestens um 2035 gerechnet werden – bei einer Mindestbauzeit von zehn Jahren dürfte die neue Bahnlinie daher nicht vor 2045 in Betrieb gehen.
Dario Giovanoli vom Förderverein schreckt diese lange Zeit nicht ab. Er sieht das Ganze in einem grösseren Kontext: «Auf nationaler Ebene bietet sich mit diesem Projekt die Möglichkeit, das seit 1878 bestehende Ostalpenbahn-Versprechen endlich einzulösen.» International und historisch gesehen erhalte Europa zudem die Chance, die aufgrund des Ersten Weltkrieges entstandene Bahnlücke zwischen der Schweiz, Italien und Österreich endlich zu schliessen.