«Die Frage der Verakademisierung stellt man meistens nur Frauen»
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Eva Cignacco ist Dr. Hebamme:«Die Frage der Verakademisierung stellt man nur Frauen»

Hebammen-Professorin Eva Cignacco Müller (62)
«Man kann nicht klinisch sauber gebären»

Sie half Hunderten von Kindern auf die Welt und ist die erste Hebamme, die in der Schweiz habilitierte: Eva Cignacco Müller (62) über Kaiserschnitte, Väter im Gebärsaal und wie sie es erlebte, als ihr Mann nach einer Hirnblutung auf einmal auf sie angewiesen war.
Publiziert: 29.05.2023 um 17:48 Uhr
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Aktualisiert: 30.05.2023 um 10:38 Uhr
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Die Hebammen-Professorin Eva Cignacco Müller sagt, dass viele ein falsches Bild vom Hebammen-Beruf haben.
Foto: STEFAN BOHRER
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Frau Cignacco Müller, das Ansehen von Ärztinnen und Ärzten und Hebammen unterscheidet sich: Die einen gelten als Götter in Weiss …
Eva Cignacco Müller: … und die Hebammen sind die, die bei der Geburt nach dem warmen Wasser schreien, um das Kind zu baden. Eine veraltete Vorstellung.

Klären Sie uns auf: Was tun Hebammen?
Hebammen führen eine Schwangerschaftsvorsorge durch oder überprüfen vor der Geburt: In welcher Geburtsphase steht die Mutter, wie liegt das Kind, wo liegt es? Man sucht das Köpfchen mit den Händen, ist es schon im Becken? Schaut den Blutdruck und den Puls an, nimmt Blut ab. Dann die Geburtsarbeit. Der Frau helfen, mit dem Schmerz umzugehen. Rücken, Beine massieren. Und immer schauen: Geht es vorwärts? Und später folgt die Nachsorge.

Die Hebamme ist also die Chefin.
Nein. Alle Massnahmen bespricht sie mit der Frau, sie redet mit.

Was, wenn die Frau nicht mehr mitreden kann, Angst hat?
Mir sagte mal eine Gebärende, sie fühle sich total übermannt. Wegen der starken Wehen. Ich schaute, dass sie die Kontrolle über die Situation wieder bekommt. Mit Fussbad, Massage, Atemtechnik, den Schmerz verschnaufen, Zuversicht geben, aufzeigen: Die Wehen sind heftig, aber es geht gut voran. Das Köpfchen ist am richtigen Ort. Dem Kind geht es gut. Das ist Geburtsarbeit.

Die erste Dr. Hebamme

Eva Cignacco Müller kam 1961 in Basel zur Welt. Ihre Eltern waren aus Norditalien eingewandert, gehörten zur Arbeiterschicht. Cignacco schlug einen anderen Weg ein. Sie war erst Hebamme in der Frauenklinik des Inselspitals in Bern. Doch sie wollte mehr. Eva Cignacco machte in den Niederlanden ein Hebammen-Studium. Und doktorierte 2007 als erste Hebamme der Schweiz, dies an der Universität Maastricht. Sie war auch die erste Hebamme, die an der Universität Basel habilitierte. Heute leitet sie die Forschung zur Geburtshilfe an der Berner Fachhochschule. Sie widmet sich der Schmerzerkennung und -behandlung bei Frühgeborenen. Eva Cignacco lebt in Bern.

STEFAN BOHRER

Eva Cignacco Müller kam 1961 in Basel zur Welt. Ihre Eltern waren aus Norditalien eingewandert, gehörten zur Arbeiterschicht. Cignacco schlug einen anderen Weg ein. Sie war erst Hebamme in der Frauenklinik des Inselspitals in Bern. Doch sie wollte mehr. Eva Cignacco machte in den Niederlanden ein Hebammen-Studium. Und doktorierte 2007 als erste Hebamme der Schweiz, dies an der Universität Maastricht. Sie war auch die erste Hebamme, die an der Universität Basel habilitierte. Heute leitet sie die Forschung zur Geburtshilfe an der Berner Fachhochschule. Sie widmet sich der Schmerzerkennung und -behandlung bei Frühgeborenen. Eva Cignacco lebt in Bern.

Sie beschreiben einen menschen- und praxisnahen Beruf. Warum wollten Sie studieren?
Ein Schlüsselerlebnis hat mir die Augen geöffnet. Ich betreute eine Frau, die auf keinen Fall einen Dammschnitt wollte. Als man bei der Geburt das Köpfchen schon ein bisschen sah, rief ich den Arzt. Er kam und packte sofort die Schere für den Dammschnitt aus, ich winkte ab.

Wie kam das an?
Nicht gut! Als das Kind kam, riss der Damm spontan. Da wusste ich: Das gibt Ärger. Der Arzt nähte die Wunde und sagte – ich habe seinen französischen Akzent noch immer im Ohr: «Du kommst jetzt mit mir raus.» Vor der Tür doppelte er nach: «Wenn diese Frau ihr Leben lang inkontinent bleibt, ist das deine Schuld.»

Heftige Worte.
Ich ging erschlagen heim und wollte dem sofort nachgehen. Wusste aber nicht, wo anfangen. Mein Mann riet, in die Uni-Bibliothek zu gehen. Dort bestellte ich Studien zum Dammriss. Arbeitete am Feierabend stundenlang alles durch und erfuhr: Der Arzt hatte unrecht. Deshalb wollte ich studieren, ich wollte auf Augenhöhe mit der Ärzteschaft kommen.

In der Schweiz gibt es seit 2008 Hebammen-Studiengänge. Läuft man damit nicht Gefahr, einen handwerklichen Beruf zu verakademisieren?
Ihre Frage ist ganz typisch in Bezug auf einen Frauenberuf.

Inwiefern?
Wenn Sommeliers einen Master machen, finden das alle toll. Will eine Hebamme forschungsbasierter arbeiten, wird dies infrage gestellt.

Was bringt die Hebammen-Forschung konkret?
Noch in den Neunzigerjahren gab es Standardabläufe. Jede Gebärende bekam einen Einlauf, um den Darm zu entleeren, um Raum für das Kind zu schaffen, und es sollten keine Fäkalien abgehen. Man rasierte jeder Gebärdenden die Schamhaare ab für den Dammschnitt. Der Nutzen von vorsorglichen Dammschnitten und von Einläufen – null! Das zeigte die Hebammen-Forschung. Klar, bei der Geburt können Fäkalien abgehen. Aber das ist gesundheitlich kein Problem.

Doch vielleicht schämt sich eine Frau dafür.
Bei einer Geburt riecht es vom Fruchtwasser, tropft Blut, rinnen Fäkalien, die Frau schreit. Eine Geburt ist etwas Archaisches. Man kann nicht klinisch sauber gebären.

Sie plädieren also für möglichst wenig Interventionen?
Ja. Das sind Eingriffe in den Körper, die gut begründet sein müssen. Diese sind für die Frauen immer mit Schmerz verbunden.

In meinem Bekanntenkreis gibt es Mütter, die ohne Not einen Kaiserschnitt wünschen. Wie beurteilen Sie das?
Die Weltgesundheitsorganisation gibt vor, dass in 10 bis 15 Prozent der Fälle ein Kaiserschnitt gerechtfertigt ist, weil es dem Kind oder der Mutter nicht gut geht. In der Schweiz haben wir eine Kaiserschnitt-Rate von rund 30 Prozent. Das ist völlig unhaltbar.

Ist es, weil die Frauen das so wollen?
Nein. 95 Prozent der Frauen sagen in Studien, sie wollen eine normale Geburt.

Was steckt hinter der hohen Quote?
Eine Kette von Interventionen. Das fängt mit einer kleinen an, einem künstlichen Blasensprung, dann hat die Frau höllische Schmerzen, weil der Kopf auf den Muttermund drückt und die Blase das nicht mehr abfedert. Dann möchte sie verständlicherweise eine Periduralanästhesie, doch die betäubt den Körper vom Bauch an abwärts. Dann muss man Wehenmittel geben. Vielleicht liegt die Frau auch noch im Bett. Unter Umständen verkeilt sich durch die fehlende Mobilität der Mutter unter der Geburt das Kind im Becken. Der ärztliche Rat ist dann der Kaiserschnitt.

Was verpasst frau, wenn sie einen geplanten Kaiserschnitt hat?
Es macht viel mit der Frau, wenn man die Geburt auslagert, nach dem Motto: Macht mir den Schnitt, entbindet mir das Kind. Entbindung, das ist passiv. Gebären ist für mich etwas Aktives. Eine extreme Selbsterfahrung.

Heute sind die Mütter bei der ersten Geburt älter als früher, was für Frauen begegnen da einer Hebamme?
Sie sind selbstbewusster, lebenserfahrener, fragen und hinterfragen mehr. Sie sind autonomer.

Manche unter den Frauen der älteren Generationen finden, die heutigen Mütter seien kompliziert, weniger belastbar. Ist das anmassend oder haben sie recht?
Es ist vor allem falsch und despektierlich. Die Mütter und Grossmütter der heutigen Mütter hatten ein ganz anderes Leben. Jenes der heutigen Frauen ist hochkomplex geworden, mit vielen Entscheidungen.

Mutter sein, schauen, dass die Partnerschaft läuft und im Job leisten ...
Und manche Frauen können nicht schwanger werden, müssen Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen, viel Geld dafür ausgeben und Enttäuschungen verarbeiten. Oder die Pränataldiagnostik: Ist das Kind gesund, wenn nicht, was heisst das? Breche ich die Schwangerschaft ab? Das sind sehr anspruchsvolle Fragestellungen, denen sich die Frauen und Paare stellen müssen.

Jetzt haben wir nur von den Frauen gesprochen, wie steht es um die Väter? Sollen diese im Gebärsaal dabei sein?
Ich sehe das undogmatisch. Einmal betreute ich eine Bäuerin, deren Mann sich mit den Händen in den Hosensäcken vor dem Gebärsaal postiert hatte. Ich fragte, ob er nicht reinkommen wolle, er sagte nur: Er habe das bei seinen Kühen schon oft gesehen. Ich prügle niemanden rein. Stimmt es für die Frau, ist das kein Problem.

Inwiefern hilft es, wenn der Mann dabei ist?
Ein Mann kann sehr unterstützend sein, wenn er auf die Frau eingehen kann, massieren, Wasser reichen, sie halten.

Wie vielen Kindern haben Sie in die Welt geholfen?
Ich habe nie Buch geführt, ich schätze zwischen 500 und 700 Babys.

Selber haben Sie keine Kinder. War das nie Thema?
Ich wollte nie Kinder. Ich wusste das schon als Mädchen. Mir fehlt nichts. Mein Mann und ich waren in unseren Berufen mit Kindern beschäftigt. Er war in der Migrationspädagogik tätig, und ich beschäftigte mich in meiner Forschung mit Frühgeborenen, wie man erkennt, wenn sie Schmerzen haben. Das war unser Beitrag zur Gesellschaft.

Hätten Sie ohne Ihren Mann den gleichen beruflichen Weg eingeschlagen?
Er war sehr wichtig in meinem Leben. In den Neunzigern gab es in der Schweiz keine Hochschulausbildung für Hebammen. Ich hatte keine Vorbilder. Mein Förderer hatte ich daheim. Mein Mann sagte immer: Was du machst, ist ganz wichtig. Mach weiter.

2017 verstarb er an den Folgen eines Ereignisses von 2010: Er hatte eine Hirnblutung gehabt und war vom Velo gefallen.
Wir fuhren zusammen, durch das Quartier, ich war dabei, erlebte alles mit.

Danach war er nicht mehr der Mensch, den Sie kannten.
Für mich war es ganz schlimm, für ihn unerträglich. Die ersten vier Jahre waren sehr schwierig.

War es noch Ihr Mann?
Ja, aber es gab einen Rollenwechsel. Wir waren davor zwei völlig autonome Leute, jeder war voll berufstätig, beide waren finanziell unabhängig. Und plötzlich konnte er ausser Ja und Nein nichts mehr sagen, er, der so viel gelesen hatte, verstand die Zusammenhänge nicht mehr. Im ersten Jahr sass er auch im Rollstuhl. Er war abhängig von mir, davon, dass ich ihn verstehe und für ihn spreche und übersetze.

Wie sah Ihr gemeinsames Leben vor der Hirnblutung aus?
Unsere gemeinsame Welt war gross. Wir reisten ständig, tanzten Tango, hatten viele Freunde, lasen, diskutierten viel. Und plötzlich schrumpfte unser Leben auf diese Wohnung hier zusammen.

Was half Ihnen beiden, das alles zu durchzustehen?
Der Anfang machte eine Reise durch den Süden der USA, die wir 2014 machten. Da merkte er: Ich kann mich der Welt doch noch erschliessen. Ab da gingen wir wieder auf Reisen. Ich nahm ihn auch an Kongresse mit. Deshalb sind wir nicht zugrunde gegangen.

Inwiefern prägte Sie die Erfahrung mit Ihrem Mann?
Ich bin resilienter geworden. Aber auch demütiger gegenüber dem Leben. Weiss jetzt: Von einer Minute auf die andere kann sich alles ändern. Und trotzdem geht es weiter.

Dennoch: Sie mussten durchhalten.
Das ist wie eine Geburt. Auch sie ist ein Lebensprozess. Wenn man den durchläuft, kommt man gestärkt heraus.

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