Giulia Tonelli (39) beim Training zuzuschauen, ist hypnotisierend: Ihr zierlicher Körper, die Spannung darin, der zarte Rücken mit all seinen Muskeln, stark, geschmeidig, wie er sich dreht in den Armen ihres Tanzpartners, wie er hochgehoben wird und gleich wieder sanft auf dem Boden landet – unglaublich, dass derselbe mädchenhafte Körper bereits zweimal ein Kind zur Welt gebracht hat: Jacopo (4) und Leon (6 Monate).
Testardi nennt man die Menschen aus Pisa – da wo Tonelli aufgewachsen ist: Starrköpfe. Irgendwie passt es, auch wenn die Primaballerina des Zürcher Opernhauses noch um viele Facetten reicher ist.
Wie vielseitig und kontrastreich zeigt der Film «Becoming Giulia», für den Regisseurin Laura Kaehr die charismatische Tänzerin während drei Jahren auf ihrem Weg vom Mutterschaftsurlaub zurück ins Berufsleben und auf die Bühne begleitet hat.
Der Film gibt einen Einblick in den Berufsalltag einer Elite-Ballettkompanie und porträtiert zugleich das Leben einer jungen Familie – und wie Tonelli durch diese zwei unterschiedlichen Welten navigiert. Hier die wettbewerbsorientierte, körperlich herausfordernde, gleichzeitig ätherische und formschöne Tanzwelt, umgeben von klassischer Musik, dort der chaotisch-dynamische Kosmos einer Mutter, mit herumliegendem Spielzeug, dem Kind, das nicht schläft, und einem Arzttermin, der um eine Stunde nach hinten verschoben wird und das ganze Programm durcheinanderbringt – begleitet von der Klangwelt ratternder Kinderwagenräder auf dem Weg in die Kita.
Der Film wirft Fragen auf, die sich so manche erwerbstätige Mutter stellt, die ihre Arbeit liebt, aber genauso ihre Kinder. Diese Nahbarkeit ist denn wohl auch der Grund, weswegen die Dokumentation im letzten Herbst am Zürich Film Festival den Publikumspreis gewonnen hat. Ab dem 23. März ist der Film nun im Kino zu sehen.
Am Erfolg will sie festhalten, auch als Mutter
«Ich kann nicht sagen, dass ich den Rhythmus bereits gefunden habe», sagt Tonelli zu Beginn unseres Videogesprächs. «Da sind die körperliche Belastung, die Schmerzen vom Training, der Schlafentzug, die Angst und die Frage, ob es meinen Kindern gut geht, wenn ich nicht bei ihnen bin.» Der ältere der Buben geht in die Kita, der jüngere wird zu Hause von einer Nanny betreut. Die Abende drehen sich ums gemeinsame Abendessen. «Es bleibt wenig Zeit für mich und meinen Mann.»
Tonelli lacht. Es ist dieses Lachen, das man oft auch im Film sieht, wenn sie tanzt. Alles ist erhellt – und in dem Moment scheinen all die Mühen und all die Angst verflogen. Auch wenn es eine Äusserlichkeit ist, so scheint dieses Lachen mit einer inneren Überzeugung im Einklang: dass man für das, wofür man brennt, hart arbeiten muss. Zudem scheint es mit dem Verlangen nach diesem süssen Gefühl verbunden zu sein, das sich einstellt, wenn man das angestrebte Ziel erfüllt, ja übertroffen hat. Der Erfolg. Tonelli kennt ihn. Und daran will sie festhalten, auch als zweifache Mutter.
Es gäbe diese subtile Art, zu sagen, dass man sich als Frau, als Mutter, mit Ambitionen zu viel vorgenommen habe, so Tonelli im Film. «Doch ein Kind gibt einem eine unglaubliche Kraft. Gerade daraus kann man schöpfen. Jacopo war eine Erweiterung für mein Leben. Eine Erweiterung für mich als Mensch. Er hat mich kompletter gemacht. Er gab mir das Gefühl, dass ich die Welt erobern könne. Er gab mir eine Kraft, die ich zuvor nicht hatte.» Trotzdem würden ihr Leute sagen: «Hey, was willst du eigentlich noch? Du hast alle Partien getanzt, das kann niemand von dir nehmen.» Wieso aber sollte sie nicht nach mehr langen dürfen? Wieso nicht etwas Ambitionierteres, etwas Komplizierteres wagen?
Dass es kompliziert ist, zeigt der Film, und daraus macht Tonelli auch im Gespräch keinen Hehl. Nach dem ersten Training nach dem Mutterschaftsurlaub sei sie weinend nach Hause gekommen. «Während schwanger zu tanzen der absolute Höhepunkt meiner Karriere war – dieses werdende Leben in mir, das hormonelle Hoch und der gut durchblutete Körper –, so fühlte ich mich nach der Geburt wie verloren. Da ist mein Sohn, den ich über alles liebe und der aber gleichzeitig dafür verantwortlich ist, dass mein Körper und meine Haut nicht mehr so straff und elastisch sind.»
Tonelli hatte Angst, nicht wieder zu ihrem Tanzkörper zurückzufinden. Denn im Gegensatz zu anderen Ballerinen startete sie ihre Karriere relativ spät. Tonelli hatte eine «normale» Kindheit. Sie trainierte zwar dreimal wöchentlich an der Ballettschule der Toskana, schloss daneben aber die Matura ab. «Ich war gut in der Schule», sagt sie. Erst als 17-Jährige stieg sie in den professionellen Tanz ein, indem sie der Direktor des Balletts der Wiener Staatsoper entdeckte und ihr ein Stipendium anbot.
Die Anforderungen bleiben die gleichen
Sie musste viel Aufholarbeit leisten und ihren Körper, der sich bereits ausgebildet hatte, fürs Ballett formen. Doch der Aufwand hat sich gelohnt: Ab 2002 tanzte Tonelli fürs Königliche Ballett von Flandern in Antwerpen, wo sie zur Halbsolistin befördert wurde. Seit 2010 ist sie Teil des Ensembles am Zürcher Opernhaus.
Fünfeinhalb Monate nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Leon ging sie auf eine zweiwöchige Tournee nach Australien, von der sie eben zurückgekommen ist und für die sie ihre beiden Kinder zu Hause gelassen hat.
«Da ist ein Gefühl von Schuld, das ich nicht von mir weisen kann», gesteht Tonelli ein. Doch ihr Mann, ein Ingenieur, habe sie darin bestärkt, zu fliegen. Auch er reise geschäftlich manchmal ins Ausland und habe argumentiert: «Wäre es für die Karriere eines Mannes, würde niemand eine Frage stellen.»
Zwar ist es heute möglich, als Ballerina während der aktiven Karriere Kinder zu bekommen – ein Fortschritt. Ashley Bouder (39) vom New York City Ballet oder Polina Semionova (38) von der Berliner Staatsoper sind nur zwei weitere Beispiele. Dennoch ist das System – wie so manch andere Spitzenposition – nicht auf die Bedürfnisse von Müttern ausgerichtet. Ob Kinder zu Hause oder nicht: Die Anforderungen bleiben die gleichen.
Dadurch entsteht der Druck, sich die Mehrbelastung zu Hause und der Wunsch, auch Zeit mit seinen Kindern zu verbringen, möglichst nicht anmerken zu lassen. «Ich will nicht dafür beschuldigt werden, weniger verfügbar zu sein, da ich Kinder habe», so Tonelli. Trotzdem fragt sie sich im Film, wieso ihre Einzelproben immer gegen Ende des Tages stattfinden. Ist es Absicht oder einfach Ignoranz?
Dazu kommt, dass für die Rückbildung einer professionellen Balletttänzerin schlicht das Knowhow am Opernhaus fehlt. Um ihren Beckenboden zu stärken, musste Tonelli privat einen Weg finden – mit ihrer Hebamme und einer Pilateslehrerin, die sich auf Frauen nach der Geburt spezialisiert hat.
Wieso nimmt Tonelli das alles auf sich? Weil es sie, Giulia Tonelli, ohne den Tanz nicht mehr geben würde. Sie würde im Familienalltag vielleicht einfach untergehen. «Mein Sohn bereichert mein Leben. Er berührt mich – mehr als das Ballett. Aber ich habe meine eigene Identität vermisst. Meine Identität als Giulia», sagt sie im Dokumentarfilm. Sie begehre den Tanz, habe ein Verlangen danach. «Ich brauche ihn» – und dabei kommen ihr fast die Tränen.
Als Tonelli nach ihrem Mutterschaftsurlaub wieder arbeiten ging, suchte sie nach Interviews mit Müttern in Spitzenpositionen. «Wie haben sie sich organisiert? Wie wurden sie behandelt?», wollte sie wissen. Jedoch habe sie kaum Antworten gefunden. «Ich hoffe, mit diesem Film leisten wir dazu einen Beitrag.»