Frau Schmid, ein Kind zu verlieren, muss schrecklich sein. Ihr ungeborener Sohn Louie starb vor 18 Jahren. Doch Sie schreiben in Ihrem Buch: Trauer ist schön. Wieso?
Birgit Schmid: 2004 hätte ich das noch nicht gesagt. Schön wird die Trauer erst mit der Zeit. Der Schmerz, die Verzweiflung, die Not, das alles verwandelt sich im Laufe der Jahre in etwas, das ich Trost nennen würde. Wir sprechen von unserem Sohn, sagen, wer er wohl wäre, und dadurch erhält er eine Gegenwart. Auch Musik oder Bücher trösten. Vom Trost ist es nicht weit bis zur Schönheit.
Oder wie es Leonard Cohen (1934–2016) sang: «There is a crack in everything, that's how the light gets in» – das Licht fällt durch die Risse in die Dunkelheit ein.
Es gibt kein Glück ohne den Schmerz und kein Licht ohne Dunkelheit. In der Trauer liegt auch eine Fülle, weil sie die Bedeutung misst, die jemand für den anderen hatte. Wer liebt, zahlt einen Preis.
Am 3. Oktober 2004 sagten Ihnen die Ärzte, dass Ihr Kind im Bauch gestorben sei. In der 33. Woche. Sie setzten die Geburt auf den anderen Tag an. Wie war das für Sie?
Es war schlimm, aber es war das einzig Richtige. Das Kind zu gebären und davor Zeit zu haben, war wichtig, um Abschied zu nehmen. Wir verbrachten die letzte Nacht zusammen im Spital, zu dritt, mein Mann und ich hielten uns an den Händen. Schmiedeten Zukunftspläne. Eine Flucht in die Zukunft.
Was ging Ihnen persönlich in jener Nacht durch den Kopf?
Ich flüchtete aus der Realität. Dachte: Vielleicht hat er sich nur versteckt. So hat es die Hebamme gesagt, die nach dem Herzschlag suchte und keinen fand: Manchmal verstecken sie sich. Doch ihr Gesicht hatte ihre Verzweiflung schon verraten. Tief drin wusste ich: Louie war gegangen.
Gab es Licht in der Dunkelheit?
Wir erlebten einen heiteren Moment. Die Pflegefachfrau, die mir das Zäpfchen verabreichte, das die Wehen auslöste, hatte eine Turmfrisur wie die Trickfilmfigur Marge Simpson. Das brachte uns zum Lachen.
Birgit Schmid wurde 1972 in Aarau geboren. Sie studierte an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte. Bald zog es sie in den Journalismus, seit 2015 ist sie Redaktorin der «NZZ», seit Sommer im Feuilleton. Daneben schreibt sie Bücher, zuletzt erschienen: «Lieben mich meine Katzen? Eine Recherche». Und nun das vierte Werk: «Schönheit der Trauer» (Echtzeit-Verlag, 25 Franken). Darin schreibt sie über die Totgeburt ihres Sohnes. Louie starb vor 18 Jahren. In der 33. Schwangerschaftswoche hörte plötzlich sein Herz auf zu schlagen. Birgit Schmid lebt mit ihrem Mann in Zürich.
Birgit Schmid wurde 1972 in Aarau geboren. Sie studierte an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte. Bald zog es sie in den Journalismus, seit 2015 ist sie Redaktorin der «NZZ», seit Sommer im Feuilleton. Daneben schreibt sie Bücher, zuletzt erschienen: «Lieben mich meine Katzen? Eine Recherche». Und nun das vierte Werk: «Schönheit der Trauer» (Echtzeit-Verlag, 25 Franken). Darin schreibt sie über die Totgeburt ihres Sohnes. Louie starb vor 18 Jahren. In der 33. Schwangerschaftswoche hörte plötzlich sein Herz auf zu schlagen. Birgit Schmid lebt mit ihrem Mann in Zürich.
Wie trauerten Sie in der Zeit danach?
Die Trauer ergriff mich an den Wintermorgen, an denen ich zur Arbeit fuhr. Sie kam abends, und sowieso, wann sie wollte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es nie mehr gut wird. Mir half mein Job. Ich verdrängte die Trauer, indem ich arbeitete. So fasste ich Tritt im Alltag.
Wenn man jemanden verliert, werden die Tage grau und kalt. Welche Farbe hatte Ihre Trauer?
In der ersten Zeit sah ich dunkelgrau, schwarz. Dann wurde die Farbe Orange wichtig. Die Gravur des Namens Louie auf dem Grabstein liess ich orange ausmalen.
Weshalb?
Es ist die Farbe der Trainerhose, die ich während der Schwangerschaft gerne trug. Am Jahrestag stellte ich einen Strauss oranger Rosen zum Grab. Orange ist sonst überhaupt nicht meine Farbe. Es ist Louies Farbe.
Was genau haben Sie betrauert?
Es tat mir wahnsinnig leid für unser Kind. Es hätte ein Recht darauf gehabt zu leben, diese Welt zu entdecken.
Tat es Ihnen auch leid um sich als Mutter?
Ja. Ich trauerte auch um unsere Zukunft als Eltern. Wir verpassten es, zusammen ein Kind zu haben. Ich hatte zuvor keinen drängenden Kinderwunsch gehabt, das Kind kam zufällig zu uns. Aber ich wusste: Wenn ich ein Kind haben wollte, dann mit diesem Mann, den ich liebe. Mit Dani.
Trauerte Ihr Mann anders als Sie?
Bestimmt. Als die Ärzte uns Bescheid sagten, schlug mein Mann seine Hand gegen die Wand. Ich lag regungslos da. Später musste ich darüber reden und bald auch darüber schreiben. Mein Mann verschwieg die Totgeburt eher einmal anderen gegenüber.
Warum?
Unsere Geschichte triggert eine Trauererfahrung bei anderen. Spricht man darüber, muss man als Trauernde oft auch die andere Person trösten. Dafür hat man in diesem Moment keine Kraft.
Eine Frau in einer ähnlichen Situation sagte mir einmal: «Man ist eine unsichtbare Mutter ohne Kind an der Seite.»
Wenn die Leute fragten, ob ich Kinder habe, stand ich in den ersten Jahren vor einem Dilemma. Oft war ich ehrlich, sagte: Ich sei Mutter geworden, habe aber kein Kind. Heute sehe ich es anders. Ich bin keine Mutter. Aber ich wurde Mutter, produzierte Milch. Und nach der Geburt explodierten meine Muttergefühle.
Eine Bekannte von mir hatte keinen Kinderwunsch, wurde unverhofft schwanger, verlor das Kind früh und wünschte sich danach nichts sehnlichster als ein Kind. Kennen das nur Frauen?
Mein Mann und ich hatten beide diese Sehnsucht. Nach einer gewissen Zeit glaubten wir, ein weiteres Kind würde Trost bringen. Man will Wiedergutmachung. Doch die gibt es nicht. Kein Kind wäre so gewesen wie dieses eine Kind.
Versuchten Sie es danach trotzdem wieder?
Ja, aber es klappte nicht mehr.
Gibt es eine Hierarchie der Trauer? Anders gefragt: Ist es schlimmer, einen nahen erwachsenen Menschen zu verlieren als ein Ungeborenes?
Manche werden das finden. Aber Trauer lässt sich nicht bewerten. Der Tod der eigenen Katze kann sich genauso schlimm anfühlen wie der Tod des Vaters. Nach der Totgeburt versuchte man uns zu trösten mit den Worten: Seid froh, dass das Kind nicht schon drei Jahre alt war, ihr kanntet es noch nicht.
Ärgerte Sie das?
Es machte mich nachdenklich. Trauer heisst, sich zu erinnern. Ich habe nicht viele Erinnerungen an Louie. Ich kenne ihn nur von den Ultraschallbildern, von seinen Bewegungen im Bauch, vom Foto, das man vom toten Säugling gemacht hatte. Ich habe keine Bilder von einem Kind, das die ersten Schritte geht, die ersten Worte spricht.
Im Netflix-Film «Peaces of a Woman» erlebt die Frau eine Totgeburt, man sieht, wie das Paar Stück für Stück auseinanderbricht. Wie haben Sie und Ihr Mann es geschafft?
Uns schweisste die Erfahrung zusammen. Sie verbindet uns als etwas, das alle anderen ausschliesst. Wir hielten es gemeinsam aus. Blickten gemeinsam nach vorne. Machten bald wieder unsere grossen Reisen.
Gab es auch Trennendes?
Der Schmerz. Der Partner erinnert einen ja an den Verlust. Und man trauert nicht immer gleichzeitig. Man hält dem anderen vor, er versinke in der Trauer. Mein Mann sagte mir oft: Ich bin auch noch da.
Wären Sie ohne diese Erfahrung heute noch zusammen?
Vielleicht nicht. Es gab kein Kind, und so mussten wir unsere Liebe nie mit jemandem teilen.
Was half Ihnen beim Verarbeiten?
Ich ging wenige Male zu einem Psychiater. Doch Trauer kann man nicht heilen. Trauer ist keine Krankheit.
Sie schreiben, dass Trauer zunehmend pathologisiert werde. Wie kommen Sie darauf?
Es gibt heute die psychiatrische Diagnose «Anhaltende Trauerstörung». Ein Jahr Trauer gilt dabei als normal. Das impliziert, dass sie danach überwunden sein sollte. Doch muss Trauer aufhören?
Sagen Sie es mir.
Nein. Es gibt heute noch Momente, in denen ich untröstlich bin. Am Jahrestag der Geburt. Die Trauer wird versöhnlicher, aber ich kann Louies Tod nichts Gutes abgewinnen. Das werde ich nie.
Bei vier bis fünf von 1000 Geburten in der Schweiz kommt das Kind tot zur Welt. Doch darüber wird kaum gesprochen. Warum?
Viele Frauen schämen sich, sehen es als Scheitern. Oder es ist zu schmerzhaft. Für viele ist eine Fehl- oder Totgeburt ein Tabu. Wobei es vielleicht auch besser ist, dass man sich nicht neun Monate lang bewusst ist, was alles passieren kann.
Als tot geboren gelten in der Schweiz Kinder, die nach der vollendeten 22. Schwangerschaftswoche oder mit einem Geburtsgewicht von mindestens 500 Gramm tot zur Welt kommen. Sonst spricht man von Fehlgeburten. Diese sind im Vergleich zu Totgeburten nicht meldepflichtig. Ein tot geborenes Baby hat auch ein Recht auf ein Begräbnis und auf einen Namen. Und nur bei einer Totgeburt steht der Mutter Mutterschaftsurlaub zu. Eine von zehn Frauen erlebt in der frühen Phase eine Fehlgeburt. Bei vier von 1000 Geburten kommt das Kind tot zur Welt.
Als tot geboren gelten in der Schweiz Kinder, die nach der vollendeten 22. Schwangerschaftswoche oder mit einem Geburtsgewicht von mindestens 500 Gramm tot zur Welt kommen. Sonst spricht man von Fehlgeburten. Diese sind im Vergleich zu Totgeburten nicht meldepflichtig. Ein tot geborenes Baby hat auch ein Recht auf ein Begräbnis und auf einen Namen. Und nur bei einer Totgeburt steht der Mutter Mutterschaftsurlaub zu. Eine von zehn Frauen erlebt in der frühen Phase eine Fehlgeburt. Bei vier von 1000 Geburten kommt das Kind tot zur Welt.
Sie sind kinderlos geblieben. Kennen Sie das Gefühl, dass Ihnen das Schlimmste widerfahren ist und Ihnen nun nichts mehr etwas anhaben kann?
Manchmal ist das wie ein Schutz. Wenn ich als Journalistin kritisiert oder beschimpft werde, denke ich: Sollen sie doch, die haben ja keine Ahnung.
Trauer relativiert.
Genau. Und vielleicht macht sie auch selbstgerecht.
Sie sind dieses Jahr 50 geworden. Ein Lebensabschnitt, in dem man vielleicht bilanziert. Entstand daraus das Buch?
Ich wusste, dass das 50. Jahr unaufhaltsam kommt. Es markiert eine Zäsur, man stellt sich viele Fragen. Ich habe in meinem Leben nichts so Existenzielles erlebt wie diesen Verlust. An der Schwelle zu dieser schrecklichen 50 drängte es sich auf, mich noch einmal damit auseinanderzusetzen.
Inwiefern schrecklich?
Mir wurde bewusst: Kinderlosigkeit heisst, keine Nachkommen zu haben. Nach mir hört die Linie auf.
Es gibt nichts, was wirklich bleibt. Man wird vergessen.
Und so geht es schliesslich allen, ob mit oder ohne Kinder. Wenn ich manchmal durch die Grabreihen gehe auf dem Friedhof, wo Louie liegt, und die Inschriften mit den Jahreszahlen auf den Grabsteinen anschaue, frage ich mich: Wie viele Generationen wird es dauern, bis sich niemand mehr an uns erinnert?
An Louie erinnert nun das Buch.
Mit dem Buch hinterlässt er eine Spur in dieser Welt.
Er wäre nun volljährig geworden. Ist es auch ein Geschenk von Ihnen an ihn?
Ich wurde genau am 4. Oktober dieses Jahres mit dem Buch fertig. Am Jahrestag der Totgeburt. Gewidmet habe ich es nicht Louie, sondern einem Lebenden. Jetzt steht am Anfang des Buches: «Für Dani».
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