Denke ich an meine Kindheit in den Neunzigerjahren, guckt mir Pixie mit ihrem feinen Fell, dem kleinen Körper und den Knopfaugen entgegen. Pixie war das Meerschweinchen einer Freundin und oft Thema bei uns Kindern. Genauso wie Joggeli, die Schildkröte (ein Weibchen, wie man erst später merkte), die sich immer wieder heimlich unter dem Gartenhaag hindurch in die Freiheit grub – und zu ihrem Leidwesen jedes Mal von ihrer Besitzerin eingesammelt wurde.
Pixie hingegen hatte nicht einmal diese Chance, sie war zu einem Leben im Kinderzimmer-Käfig verdammt. Ganze Nachmittage lang belagerten wir das Tierchen, nahmen es abwechslungsweise auf den Schoss, streichelten es im Akkord und probierten auch mal Puppenkleider an ihm aus.
Erst 2010 erfuhren wir: Alles Tierquälerei! Eine neue Tierschutzverordnung, die international für Schlagzeilen sorgte, schrieb vor: Meerschweinchen durften neu nicht mehr alleine gehalten werden. Weiter lernten wir: Als Fluchttiere gehen sie fast ein vor Angst, wenn sie gedrückt werden. Was wir für Zutraulichkeit gehalten hatten, dieses Stillhalten, war in Wirklichkeit oft Schreckstarre oder depressive Lethargie. Arme Pixie. Wir hatten sie fast zu Tode geliebt!
Barbera Lenzin (56) züchtet seit über 25 Jahren Meerschweinchen
Dies ist nur eine von Millionen von Meerschweinchen-Storys, die sich in den Kinderzimmern Europas zugetragen haben. Während der Neunzigerjahre war das Tier schwer angesagt. Der Trend flaute danach wieder etwas ab, bis die Pandemie kam, man daheim sass, Zeit und Musse für ein Haustier hatte, da nahmen die Verkäufe laut Medienberichten zu. Der Verband Heimtiernahrung hat für 2022 erhoben: 43 Prozent der Schweizer Haushalte haben Heimtiere. Davon waren 1,853 Millionen Katzen, 544’000 Hunde, 245’000 Nagetiere – zu denen das Meerschweinchen zählt – und 300’000 Vögel.
Vom Wild- zum Knuddeltier
All diese Tiere haben mit dem Meerschweinchen gemein: Sie waren einmal Wildtiere. Der Mensch hat sie domestiziert. Er hat sie nutzbar gemacht, sie an sich gewöhnt, gebunden und durch Züchtung nach seinen Vorstellungen geformt.
Isabelle Schürch von der Abteilung für mittelalterliche Geschichte der Universität Bern forscht dazu. Die Historikerin weiss: «Der Mensch hat sich in Beziehung zum Tier entwickelt.» Bestes Beispiel: der Hund, das erste Haustier überhaupt. Er stammt vom Grauwolf ab und trat vor mindestens 14’000 Jahren an unsere Seite, wurde zum Jagd- und Herdenhund. Wegen seines Bewegungsdrangs hat der Mensch das Spazierengehen kultiviert.
Als Haustier war der Hund vor allem bei Adligen beliebt. Im Spätmittelalter (1300–1500) war er für junge Frauen wichtig, die an fremde Höfe in Europa verheiratet wurden. Die Historikerin Schürch sagt: «Oft war das einzige Vertraute, das sie mitnehmen konnten, das Kätzchen oder der Schosshund.»
Die britische Queen Victoria (1819–1901) besass eine ganze Schosshundesammlung: 35 Spitze, 38 Möpse, 80 Terrier und 88 Collies. Sie liess ihre Lieblingsvierbeiner von Malern porträtieren. Dabei ging es um Status, darum, das teuerste, schönste, seltenste Tier zu besitzen. Aber nicht nur, wie Schürch sagt: «Haustiere wurden dazu benutzt, um die eigenen Emotionen spielen zu lassen.» Ihre Aufgabe war es, Liebe und Trost zu spenden.
Das Meerschweinchen kam übers Meer
Auch der Siegeszug des Meerschweinchens begann mit seiner Domestizierung. Doch an einem ganz anderen Ort. Die ersten Spuren haben Forscher in der Andenregion vor 10’000 Jahren gefunden. In Peru, Kolumbien oder Bolivien jagten und assen die Menschen sie, züchteten sie später auch. In Südamerika sind sie noch heute eine Delikatesse.
Zu uns kamen sie im 16. Jahrhundert. Als die Spanier Südamerika für sich einnahmen, nahmen europäische Händler ein paar Meerschweinchen auf ihren Schiffen mit. Hier änderte sich ihre ursprüngliche Bedeutung. Adlige schafften sich die Tiere als exotisches Must-have der Oberschicht an und liessen sich auf Gemälden damit verewigen.
Die Wissenschaft zog mit. Als erster Naturforscher überhaupt beschrieb der Zürcher Conrad Gessner (1516–1565) das Tier 1563 in seinem grossen «Thierbuoch»: «Sy sind ser üppig und geil, aus ursach sy so ser fruhtbar sind: sy kempffend umb die weyblin.» Später benutzten es Forscher als Versuchskaninchen in ihren Laboren.
Bis in die heutigen Kinderzimmer dauerte es noch etwas. Erst musste das Haustier zum Massenphänomen werden, wie das Buch «Tierisch beste Freunde» von Viktoria Krason und Christoph Willmitzer aufzeigt. Ende des 18. Jahrhunderts begann die Industrialisierung. Die Menschen strömten vom Land in die Städte, wo sie Arbeit fanden, und nahmen als letztes Stück Natur ein Tier mit zu sich in die Stube. Gleichzeitig wurden die Familie und Kinder als Wert immer wichtiger. Und damit eine emotionale Beziehung zum Tier. Eine ganze Heim-Tier-Industrie entstand. Auch für das Meerschweinchen.
Gschpänli für einsame Meerschweinchen
Die Auswüchse davon bekam die Nation in den Neunzigerjahren im Schweizer Fernsehen zu sehen. Reporter filmten vor einer bevorstehenden Ausstellung eine Züchterin dabei, wie sie ein Meerschweinchen nach dem anderen – die sie einzeln hielt, damit die Haare in Ruhe wachsen können – aus dem Stall holte und in der Küche mit einem Schaumbad malträtierte. O-Ton der Frau: «Meerschweinchen sind eigentlich wasserscheu.» Seelenruhig kämmte sie dem zitternden und quiekenden Tierchen das verknotete lange Fellhaar und erklärte in arglosem Ton: «Meerschweinchen sind sehr wehleidig. Auch wenn man gar nicht fest an den Haaren zupft, tun sie einfach immer so, als ob es furchtbar schlimm wäre.»
Furchtbar schlimm war das. Wir, die Masse von Kindern damals, die unsere Haustiere vergötterten, hatten vom Elend der Meerschweinchen keine Ahnung. Damit sind wir wieder beim Anfang dieses Texts. Im Rückblick ist da viel Reue. Pixie hätte ein Gschpänli gebraucht. Bis heute gibt es in der Schweiz sogar Züchterinnen, die Meerschweinchenpartner verleihen.
Eine schaffte es vergangenes Jahr ins deutsche Radio. Weil ältere Meerschweinchendamen zuweilen zickig sind, sagte die Züchterin dem SWR, gibt sie ihnen junge kastrierte Männchen an die Seite. Die könnten sich gut unterordnen und würden von den älteren Damen dann noch erzogen. Pixie hätte gute Karten gehabt. Meines Wissens wurde sie immerhin fünf Jahre alt. Doch auch das Ende ist eine Geschichte für sich: Der Bruder der Freundin fütterte das arme Geschöpf noch Tage nach dessen Tod weiter. Er hatte geglaubt, das Tierchen schlafe.
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