Es ist ein Tabuthema: das Lieblingskind. Viele Eltern kennen das Gefühl, dass sie zu einem ihrer Kinder eine engere Verbundenheit haben. Und welcher Sohn oder welche Tochter hat sich nicht schon einmal darüber aufgeregt, dass der Bruder oder die Schwester angeblich bevorzugt wird? Wimmelt es von unfairen Eltern oder paranoiden Sprösslingen – oder ist die Realität differenzierter?
Laut dem auf Familientherapie spezialisierten Psychologen Jon Schmidt beruht jedes Familiensystem auf einem Gleichgewicht. Ähnlich einem hängenden Mobile, wie man es über Kinderbetten findet: «Die verschiedenen Teile dieses Mobiles haben nicht unbedingt die gleiche Form oder den gleichen Platz, aber jedes Teil garantiert sein Gleichgewicht», erklärt der Experte. Bestimmte Rollen seien zwar schwieriger zu erfüllen, aber dennoch wesentlich für die Aufrechterhaltung des familiären Gleichgewichts.
Wie sehen diese Rollen aus? Jon Schmidt nennt als Beispiel Eltern mit zwei Kindern: «Wenn eines der Kinder die Rolle des Freidenkers spielt, sich den Eltern öfters widersetzt und somit das Familiensystem ‹durcheinanderbringt›, wird sein Bruder oder seine Schwester im Gegenzug eine umgänglichere Persönlichkeit entwickeln, um das Gleichgewicht des Mobiles zu gewährleisten.»
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Wenn die Struktur aus dem Gleichgewicht gerät
In einer sogenannten «funktionierenden» Familie nehmen Familienmitglieder manchmal einen undankbaren Platz ein, um alles im Gleichgewicht zu halten. Was passiert aber, wenn das System ins Strudeln gerät und plötzlich ein Kind an allem schuld zu sein scheint? Man spreche dann von einem «Symptomkind», erklärt Jon Schmidt. Er fügt hinzu: «Diese Familien sind im Glauben gefangen, dass sich nichts ändern kann, es sei denn, das Problemkind ändere sich.»
In so einem Fall kann eine Gruppentherapie helfen, die Situation zu lösen. «Der Therapeut hilft den Familienmitgliedern, die Perspektive zu wechseln, einen anderen Blick auf die Gesamtsituation zu werfen und vor allem die Gefühle jedes Einzelnen zu differenzieren», erklärt der Psychologe.
Aber was, wenn Eltern einfach mehr Gemeinsamkeiten mit einem der Kinder haben? Dürfen sie das? «Es ist ein sehr tabuisierter Gedanke und es fällt schwer, sich das Recht zu geben, ihn zu haben. In meiner Beratung wird das nie klar benannt. Stattdessen verwenden Eltern, die glauben, dass sie eine solche Asymmetrie empfinden, Formulierungen wie: ‹Das ist wirklich ein schrecklicher Gedanke, aber ...›», sagt Jon Schmidt.
Der Experte erklärt, dass es verschiedene Arten der Liebe gibt und ebenso viele Arten, sie auszudrücken. Ein Elternteil erzählte ihm zum Beispiel einmal: «Mit diesem Kind habe ich keine Zärtlichkeit entwickelt, weil es nie um Umarmungen gebeten hat. Dafür schauen wir uns eine Serie gerne zusammen an, aber mit meinem anderen Kind, das sehr liebevoll ist, wäre das unmöglich.» Diese Ansicht erinnert ein wenig an die Theorie der fünf Sprachen der Liebe, die bei Paartherapeuten sehr beliebt ist. Jon Schmidt meint, dass es nur selten echte, dauerhafte Präferenzen gibt. Er habe noch nie einen Elternteil gesehen, der sagt: «Ich habe mich entschieden, ich bevorzuge eines meiner Kinder, und nichts kann das ändern.»
Weniger Gleichheit, mehr Fairness
Der Psychologe appelliert stattdessen, von Gleichheit zu Fairness zu wechseln: «Wir haben nicht alle die gleichen Bedürfnisse zu den gleichen Zeiten. Deshalb sollte man versuchen, ein Gleichgewicht anzustreben: Zu einem bestimmten Zeitpunkt erhält das eine Kind mehr, zu einem späteren Zeitpunkt das andere.» Allerdings sollte dieser Ansatz über einen längeren Zeitraum angewendet werden, sonst verfange man sich in einer Gleichgewichtsbuchhaltung. Schmidt sagt: «Das ist weder realistisch noch wünschenswert».