Gibt es die harmonische Erziehung?
«Eine vollständig harmonische Erziehung der eigenen Kinder gibt es nicht», sagt Renato Meier (63), Leiter der Familien-, Paar- und Erziehungsberatung (Fabe) in Basel. Jeder Elternteil wolle dem Kind seine eigenen Werte und Ideale weitergeben. Jemand lege vielleicht mehr Wert auf Bewegung und gesunde Ernährung, jemand anderer wolle dem Kind mehr Freiheiten geben und lasse es auch mal faulenzen. Auftretende Konflikte seien keine Seltenheit und nichts Schlimmes. «Sie können dem Kind sogar nützen, Widersprüche zu erkennen», sagt Meier. Mit diesen umzugehen, sei ein wichtiger Lernprozess. «Wenn beide Eltern alles gleich machen würden, könnte das dem Kind mehr schaden als nützen.»
Wann braucht es Einigkeit?
Bei Fragen folgender Art sollten sich Eltern gemäss Meier einig sein: Wie reden wir in der Familie? Wie verhalten wir uns am Esstisch? Wie gehen wir mit Mitmenschen um? Wann konsumieren wir welche Medien? Die Antworten basieren auf den Grundwerten. Eltern sollten ihren Kindern diese Werte gemeinsam vermitteln. Meier plädiert für gegenseitiges Verständnis. Das fördere Toleranz und helfe, Kompromisse zu finden. «Versetzen Sie sich in die Situation Ihrer Partnerin oder Ihres Partners. Fragen Sie, welche Gründe hinter den Ansichten des Gegenübers stehen und versuchen Sie, diese zu verstehen.»
Dürfen Eltern unterschiedlich streng sein?
Wenn die Eltern im Alltag unterschiedlich streng sind, könne das zum Problem werden, sagt Meier. Ein Elternteil sei dann immer lieber als der andere. Es entstehe eine sogenannte «Good Cop»-«Bad Cop»-Konstellation, wie sie zum Beispiel Polizisten in Verhören als Taktik verwenden. Sanktionieren solle man das Kind immer gemeinsam, sagt Meier. «Sonst kommen Kinder in Loyalitätskonflikte.» Zudem: Wenn Kinder den weniger strengen Elternteil bevorzugen würden, fühle sich der Strengere oft weniger wertgeschätzt. «Das kann zu Streit unter den Erwachsenen führen.»
Renato Meier (63) ist Paartherapeut und diplomierter Sozialarbeiter. Der Vater zweier Töchter amtet seit 16 Jahren als Geschäftsleiter der Familien-, Paar- und Erziehungsberatung (Fabe) Basel. Seit mehr als 90 Jahren ist sie Anlaufstelle für ratsuchende Eltern. Während der Pandemie war die Nachfrage besonders hoch – auch von Eltern, die sich über Kindererziehung stritten.
Renato Meier (63) ist Paartherapeut und diplomierter Sozialarbeiter. Der Vater zweier Töchter amtet seit 16 Jahren als Geschäftsleiter der Familien-, Paar- und Erziehungsberatung (Fabe) Basel. Seit mehr als 90 Jahren ist sie Anlaufstelle für ratsuchende Eltern. Während der Pandemie war die Nachfrage besonders hoch – auch von Eltern, die sich über Kindererziehung stritten.
Wie wirkt sich Streit auf Kinder aus?
Ein emotionaler, lauter Streit zwischen Eltern könne Kinder nachhaltig traumatisieren und sollte verhindert werden, sagt Meier. Vor allem, wenn es beim Konflikt um den unterschiedlichen Umgang mit dem Verhalten der Kinder gehe. «Im schlimmsten Fall haben sie das Gefühl, schuld zu sein am Konflikt, und verlieren das Vertrauen in den geschützten Kreis der Familie.» Hinzu komme, dass Kinder «nach Modell» lernen. Verliere ein Elternteil die Nerven, werde es das Kind ihm irgendwann nachmachen. Sollte es dennoch zu einem heftigeren Streit kommen, sei es wichtig, danach eine gemeinsame Lösung zu finden. «So lernen die Kinder: Auf Streit folgt Versöhnung.»
Wann sollen sich Eltern Hilfe holen?
Ein gutes Anzeichen, dass es Zeit ist, Rat von Profis beizuziehen, sind laut Meier Anschuldigungen in der Art von: «Das haben wir doch schon zehnmal besprochen!» Je länger man nichts tue, desto grösser werde die Frustration. Manchmal ziehe sich ein Elternteil zurück, manchmal werde die Wut so gross, dass die Kinder sie körperlich oder seelisch zu spüren kriegen. Gemäss Schätzungen der Stiftung Kinderschutz Schweiz erleben gut die Hälfte aller Kinder in der Schweiz physische und psychische Gewalt in der Erziehung. Eltern würden oft nicht wahrhaben wollen, dass Erziehung herausfordernd ist, und würden zu lange warten, bis sie sich Hilfe holen, sagt Meier. «Dabei braucht sich niemand dafür zu schämen.»