Drei nackte Betonwände des untersten Stocks von Silvio T.s* (†83) Chalet in Lostallo GR stehen noch, lassen einen Raum erahnen. Die Holzschränke darin sind umgekippt. Eine Schlammschicht bedeckt das Regal. Im zweitobersten Fach – eine Engelsfigur. «Silvio hat dieses Haus gebaut – nun ist er mit ihm verschwunden», sagt Antonio Giudicetti (73), ein Verwandter von Silvio, zu Blick.
Am Freitagabend donnern Gestein und Wassermassen ins Misoxtal, bahnen sich ihren Weg durch den Weiler Sorte im Süden von Lostallo. Silvio T.s Chalet steht oben am Hang, wird mitgerissen. Guidicetti: «Ich bin sicher, dass er zu diesem Zeitpunkt draussen war. Bestimmt hat er versucht, das Wasser umzuleiten oder irgendetwas gewerkelt. So war Silvio – er arbeitete unablässig.»
T. und seine Partnerin gelten zunächst als vermisst. Ebenso ein Ehepaar, das in einem Haus weiter unten lebt. Am Sonntag wurde sein Körper schliesslich geborgen – mehrere hundert Meter stromabwärts im Wasser. Seine Partnerin überlebt, liegt zurzeit im Spital.
«Ich hörte das Grollen, roch den Schlamm»
Silvio T. wird in Lostallo geboren, macht in Chur die Lehre als Maurer. Er zieht nach Obersaxen, gründet eine eigene Baufirma. Als Pensionierter kommt er zurück ins Dorf, pflegt fortan einen engen Kontakt zu Antonio Guidicetti, dem Sohn seiner Cousine.
Dieser sitzt nun verloren in seinem Garten in Lostallo, trinkt ein alkoholfreies Bier, erzählt: «Ich wollte eigentlich den Rasen mähen. Aber ich komme mir so dumm vor, mich darum zu kümmern, im Angesicht der Zerstörung.»
Er fühle sich schuldig, da ihm nichts passiert sei. «Ich stand am Freitagabend im Hauseingang, hörte das Grollen, roch den Schlamm, der ins Tal donnerte», erinnert er sich. Es sei neblig gewesen. Erst am nächsten Tag habe er die Zerstörung in Sorte gesehen. «Diese Schäden können behoben werden. Doch die Toten bringt uns niemand zurück.»
«Vor dem Einschlafen denke ich an ihn»
Auch der Gemeindepräsident Nicola Guidicetti (64) kannte Silvio T. gut, sie sassen zusammen im Gemeinderat. «Tagsüber bin ich beschäftigt. Aber abends vor dem Einschlafen kreisen meine Gedanken um ihn», gesteht er.
Die Priorität der Gemeinde sei, das noch vermisste Ehepaar zu finden. «Ihr Haus ist bis zum 2. Stock mit Schlamm voll. Die Rettungskräfte tun ihr Möglichstes. Bisher haben wir sie noch nicht gefunden», so der Gemeindepräsident.
Die Verwüstung im Tal – grenzenlos. Ein anderer Bach weiter nördlich überschwemmte das Seminarzentrum «Centro Arte». Das Wasser riss eine Steinlawine mit, die ein paar Dutzend Zentimeter vor dem Fenster von Kaspar Stenz' Haus zum Stillstand kam. «Wir waren nur wenige Stunden vor dem Unglück verreist», sagt der zweifache Vater zu Blick.
«So etwas haben wir noch nie gesehen»
Die weisse Fassade seines Hauses ist bis zwei Meter über dem Boden mit Schlamm verdreckt. «Zum Glück sind die Schäden im Inneren überschaubar», sagt Stenz. Die untersten Stockwerke der anderen Gebäude des Centro Arte wurden grösstenteils geflutet. Freiwillige sind angereist, um Dreck und Geröll wegzuräumen.
So auch einige Hockey-Fans der Tessiner Clubs Lugano und Ambri-Piotta, die eigentlich verfeindet sind. «Bei einer solchen Katastrophe gibt es keine Farben mehr. Im Stadion beschimpfen wir uns, hier ist das egal», erklärt Lugano-Fan Fabio Lorenzetti (35). Das Unglück mache sie sehr betroffen. «So etwas haben wir noch nie gesehen», sagt er.
Insgesamt 200 Gebäude wurden beim Unwetter beschädigt. Der Schaden dürfte sich laut der Gebäudeversicherung des Kantons Graubünden im zweistelligen Millionenbereich befinden.
«Habe schon vier Erdrutsche erlebt – das war der schlimmste.»
Luigi Fossati (74) beobachtet die Bagger neben seinem Grotto De Ritz. Er war daran, sein Restaurant zu renovieren. Nun haben die Überschwemmungen die Aussenterrasse zerstört. «So ist halt die Natur», sagt er gelassen. «Ich habe schon vier Erdrutsche erlebt – dieser war der schlimmste.»
Am Dienstag werden erneut Gewitter erwartet. Die Arbeiter vor Ort setzen alles daran, die Schutzdämme an den Hängen wieder freizuräumen. Doch die Lastwagen, die das Material abtransportieren müssten, sinken ein. Und so werden im Eiltempo neue Strassen gebaut.
Luigi Fossati sagt, hier im Dorf lerne man von klein auf, hart zu arbeiten: «Doch wenn es um den Berg geht, dann bleibt einem nur der Glaube.»
* Name geändert
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