Engadin Skimarathon wird zur Frost-Falle – Teilnehmer berichten
«Leute haben sich mit heisser Bouillon übergossen»

Schneesturm, Unterkühlung und Erschöpfung zwangen zahlreiche Teilnehmende am Engadin Skimarathon zum Abbruch. Drei berichten von verstörenden Bildern.
Publiziert: 14.03.2024 um 12:20 Uhr
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Aktualisiert: 14.03.2024 um 16:03 Uhr
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Vor dem Start war ihnen noch zum Lachen zumute: Die Triathleten Rouven Kuhn und Cathrin Mundt kamen beim Engadiner Skimarathon an ihre Grenzen.
Foto: Leserreporter
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Sandra MeierJournalistin News

Apathische, erschöpfte Gesichter, Läuferinnen und Läufer zittern am ganzen Leib. Andere brechen in Tränen aus, weil sie Hände und Unterarme nicht mehr spüren. Zahlreiche Notfälle müssen behandelt werden. So beschreibt Blick-Leser Clemens Henle (52) seine Erlebnisse am Engadin Skimarathon. Er nahm bereits zum vierten Mal am Lauf teil. Normalerweise sei alles perfekt organisiert. Doch für diese Austragung im dichten Schneetreiben am letzten Sonntag hat er nur wenige lobende Worte übrig.

Eigentlich sollte es ein schönes Wochenende in der Schweiz werden. Mit sechs weiteren Freunden reiste Henle aus dem Raum Düsseldorf für den Engadiner an. Von einem Langlauf-Profi ist der Deutsche weit entfernt. Diese starten zuerst, die weniger Erfahrenen werden in den hinteren Starträngen eingeteilt. Das Wetter präsentiert sich am Sonntag von seiner garstigen Seite – es herrscht starker Schneefall, der Wind peitscht. Vor allem die Anfänger auf den hinteren Rängen trifft es schwer: «Unsere Gruppe war vom Schneesturm, der am späten Vormittag einsetzte, besonders betroffen», sagt er zu Blick.

Unsicherheit und Angst machen sich breit

Unterwegs spitzt sich die Lage zu. Die Sicht ist eingeschränkt, Henle erkennt seine Umgebung nur noch silhouettenhaft. Durch den Neuschnee sackt er mit den Ski immer wieder ein – eine enorme körperliche Anstrengung. «Ich wusste nicht, ob ich das schaffe. Mehrfach spürte ich meine Hände nicht mehr», so Henle. Eine leichte Panik sei in ihm hochgekrochen. «Ich dachte, es darf jetzt nichts schiefgehen, ich darf nicht lange stehenbleiben.»

Die Sicht bei den späteren Starts wurde immer schlechter.
Foto: Leserreporter

Schliesslich entscheidet sich der 52-Jährige dazu, vor dem Ziel aufzuhören – so wie rund 800 weitere von insgesamt 11'000 Teilnehmenden. Den Lauf abgebrochen haben auch die Triathleten Rouven Kuhn (37) und Cathrin Mundt (32) aus Deutschland. Die erfahrenen Sportler starteten als Langlauf-Anfänger ebenfalls von den hinteren Rängen – und fanden sich inmitten des Schneesturms wieder. Sie sagen: «Wir sind maximal an unsere körperlichen Grenzen gekommen.»

Auf dem Weg seien die zu weit auseinanderliegenden Verpflegungsstationen leergeräumt gewesen. Sie erreichten dann ein Notlazarett, das die Feuerwehr errichtet hatte. Mundt war so stark unterkühlt, dass sie weder Ski noch Klettverschlüsse lösen konnte. Ein Notarzt behandelte sie. «Ich war blau angelaufen, solche Schmerzen hatte ich noch nie», sagt sie.

Durchgefrorene Läufer übergiessen sich mit heisser Bouillon

Einige Szenen bleiben Kuhn in Erinnerung: «Die Leute haben sich teilweise mit heisser Bouillon übergossen.» Er habe viele Personen mit blauen Lippen, Händen und Füssen gesehen. Auch Clemens Henle sagt: «Ein Läufer tauchte seine gefühllosen Hände in heisse Trinkbouillon, ein anderer musste gefüttert werden, weil er seine Hände nicht mehr bewegen konnte.» Die freiwilligen Helfer seien für so einen Fall mangelhaft gebrieft worden, kritisiert Henle. Es habe weder Decken noch genügend Aufwärmplätze gegeben.

Für ihn ist klar: «Die Veranstalter hätten das Rennen abbrechen und Teilnehmende, die sich noch auf der Strecke befanden, einsammeln müssen.» Zumindest hätte er sich gewünscht, dass die Veranstalter den Helfern klar kommunizierten, wie diese sich in solchen Situationen verhalten sollen.

Das Triathlon-Paar hätte eine Wetterwarnung vor dem Start begrüsst. Oder einen Hinweis, zusätzliche Kleidung zu tragen. Schliesslich handle es sich um einen «Volkslauf», wo jeder und jede teilnehmen könne. Auch zwei Tage nach dem Marathon litten sie noch unter Erfrierungserscheinungen.

Rennarzt: Wetterlage war so nicht absehbar

Eine Wetterwarnung konnten die Veranstalter aber nicht herausgeben, denn: Offenbar hatte dieses kurzfristig geändert. Die Prognosen hätten für den Sonntag Rückenwind angekündigt, heisst es vonseiten der Veranstalter auf Blick-Anfrage. «Mit dem Gegenwind und dem Schneefall entstand eine ausserordentliche Lage», sagt Andi Grünenfelder, seit 21 Jahren Rennarzt des Skimarathons. Die Teilnehmenden seien dadurch rasch nass und ein Teil von ihnen auch unterkühlt worden. Rund 300 Teilnehmende, die aufgaben, mussten vom Sanitätsdienst behandelt werden. «Weniger als zehn davon wurden zur Sicherheit ins Spital gebracht», so der Rennarzt und frühere Spitzenlangläufer.

Aufgrund des Wetters sei der Lauf zwar anstrengender als in anderen Jahren gewesen, einen Anlass zum Abbruch habe es aber nicht gegeben. Zum Vergleich: Im Vorjahr hatten rund 150 Läufer aufgegeben. Der Rennarzt widerspricht auch dem Vorwurf, die Veranstalter seien zu wenig vorbereitet gewesen: «Wir halten jeweils zusätzliche Wärmeräume bereit, die dann innert kürzester Zeit in Betrieb gehen können.» Eine Schwierigkeit bei einem solchen Anlass, der sich über ein grosses Gebiet erstreckt, bestehe darin, dass man im Vorhinein nicht genau wisse, wo die Teilnehmenden in grösseren Zahlen aufgeben und betreut werden müssen. So könnten vereinzelt Wartezeiten entstehen, auch wenn genügend Kapazitäten bereitstünden. Auf die ausserordentliche Lage habe man sehr gut reagieren können. Kritik habe es nur wenig gegeben: «Zur Betreuung von Teilnehmern, die in diesem Jahr aufgeben mussten, haben wir bisher grossmehrheitlich sehr positive Rückmeldungen erhalten.»

Trotz der Grenzerfahrung will Clemens Henle auch nächstes Jahr am Engadiner teilnehmen: «Ich will meinen abgebrochenen Lauf beenden – aber nie nie wieder bei einem Schneesturm!»

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