Auf einen Blick
- Jungen sind immer häufig schlechter in der Schule als Mädchen
- Mehr junge Frauen studieren als junge Männer
- Mädchen haben Fähigkeiten, die sie bevorteilen
- Buben fehlen oft die Vorbilder
Das Drama der Buben fängt vor der Geburt an. Wenn werdende Eltern sich ausmalen, was das Baby werden wird. Immer öfter heisst es: ein Mädchen, hoffentlich! Die grosse Enttäuschung folgt prompt, neudeutsch: Gender Disappointment. Weil im Bauch nun doch ein Junge heranwächst und der Gedanke daran sich «unnatürlich anfühlt», wie eine Mutter gegenüber SRF sagt, denn: «Auf dem Spielplatz mit unserer Tochter haben ich und mein Mann oft Buben beobachtet. Wir haben uns immer wieder gesagt: Wir finden Mädchen viel lustiger, schlauer, gewiefter.»
Immer häufiger gehen Eltern aus diesem Grund noch weiter. Sie reisen laut CH Media nach Nordzypern, wo dank IVF möglich ist, was bei uns verboten ist: das Geschlecht des Embryos zu bestimmen.
Es verschiebt sich etwas. Generationen vor uns setzten auf einen Stammhalter. Napoleons erste Frau Joséphine willigte in die Scheidung ein, machte Platz für eine neue Braut, nachdem die Ehe kinderlos geblieben war. Heute ist das undenkbar. Frauen bei uns sind gleichgestellt, verdienen ihr eigenes Geld, der Mann als Ernährer hat (theoretisch) ausgedient. Eltern können es sich leisten, Mädchen zu wollen.
Auch wenns komisch klingt – das ist rational. Buben machen mehr Ärger als Mädchen. Sie leiden häufiger unter ADHS, Autismus oder einer Lese- und Schreibschwäche. Was sie auch sind: schlechter in der Schule. Das ist der Punkt. Bildung stellt die Weichen fürs Leben. Und da sieht es immer düsterer für Knaben aus.
Der Aufstieg der gebildeten Frau
Der Aufstieg der gebildeten Frau hat schon vor Jahrzehnten begonnen, doch gerade hat er einen Höhepunkt erreicht: Mädchen haben in fast allen Bildungsbereichen Buben überholt. Massiv. Der aktuelle Bildungsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt: 54 Prozent der jungen Frauen und 41 Prozent der jungen Männer im OECD-Raum haben einen Hochschulabschluss.
Und weiter: Der Abstand vergrössert sich in vielen Ländern. In Island studieren mittlerweile halb so viele junge Männer wie Frauen. In der Slowakei und Polen haben ein Drittel der Jungs und die Hälfte der Mädels einen Uniabschluss. In der Schweiz stehen 54 Prozent der jungen Frauen 50 Prozent bei den Jungs gegenüber – sieben Jahre zuvor waren es je 49 Prozent. Und die Schere öffnet sich weiter: 2022 haben in der Schweiz 12 Prozent mehr Mädchen als Jungs eine Matur abgeschlossen.
Die Jungs fallen ab. Und wie. Buben in Not – das Thema beschäftigt Medien weltweit. Die «New York Times» fragt: «Was ist mit den Männern los?», weil so viele junge Männer in die Arbeitslosigkeit und Opioidsucht abrutschen. Die deutsche «Zeit» machte kürzlich die Bildungsschwäche der Jungs für die rechtsextreme Radikalisierung im Land verantwortlich und forderte: «Chancengleichheit muss auch für junge Männer gelten.» Noch nie zeigte sich die Bubenkrise im Klassenzimmer so stark wie heute.
In der Primarschule bleiben Knaben häufiger sitzen, machen öfter ständig blau, brechen danach öfter die Schule ab und bringen schlechtere Noten nach Hause. Auch wenn man hier einschieben muss: Als Erwachsene lassen sie die Frauen, die zugunsten der Familie zurückstecken, mit ihren besseren Löhnen, mehr Chancen auf Chefposten und höheren Pensen wieder weit hinter sich – Stichwort: Leaky Pipeline.
Nicht mal in Mathe und Sport unbedingt besser
Man muss sich nur mal an der Abschlussfeier der Neuen Kantonsschule Aarau (NKSA) umsehen. Vergangenen Sommer sassen die Maturanden und Fachmaturandinnen in Anzug und festlichem Kleid auf den Bänken der Stadtkirche Aarau und warteten auf ihre Urkunde. Die Schulleitung zeichnete Lea, Cedric und Yannis (Gruppenarbeit), Anna, Jessica sowie Viola für die besten Matura- und Fachmaturaarbeiten aus. Der Förderpreis der Unternehmen ging an Benita, Ilona, Joy, Noelle und Lara. Und wenn man glaubt, dass für den Sonderpreis für eine herausragende Arbeit auf den Gebieten Energie, Technik und Umwelt zur Abwechslung mal ein Jonas oder Noah ausgezeichnet wurde, stand tags darauf im Artikel der Lokalzeitung, dass Lea gewürdigt wurde.
Sobald Männer und Frauen die gleichen Chancen auf Bildung haben, sind Letztere in vielen Bereichen besser. Forschende sind sich einig: Auch in den traditionellen Jungsfächern holen die Frauen zünftig auf. Nicht mal in Mathematik und Sport sind die Noten der Männer noch signifikant höher.
Warum ist das so? Warum stechen die Mädchen die Buben derart aus?
Vier Jungs und vier junge Frauen im Gymi-Abschlussjahr sind in einem Unterrichtsraum in Aarau zusammengekommen. Sie sitzen an zu einem U geformten Pulten und erzählen von ihrer Schulzeit. Sie sind um die 19 Jahre alt, gehen auf die NKSA – im vergangenen Jahrhundert noch eine Töchterschule. Heute kommen auf einen Mann hier fast zwei Frauen.
Die Gruppe diskutiert zwei Stunden lang über die Geschlechterunterschiede. Der Start ist harzig, anfangs zucken sie mit den Schultern. Mädchen sollen Jungs voraus sein? – Nö, blödes Stereotyp! Nach und nach kommen sie auf Antworten. Auf verblüffend ähnliche wie ein Bildungsforscher und ein Männerpsychologe ihre Aussagen für uns einordnen.
Sie sind nicht gleich motiviert
«Meine Freundin ist auch an der Kanti. Sie investiert viel mehr Zeit als ich ins Lernen. Bei mir reicht es ja auch so.» (Max) «Früher, in der Bezirksschule, machten wir Jungs für die Schule das Minimum, die Mädchen haben sich den Arsch aufgerissen und gute Noten gekriegt.» (Yannis)
Andreas Hadjar ist Professor für Soziologie an der Universität Freiburg und forscht seit über zwanzig Jahren zu Bildungsungleichheiten. Er hat viele Studien durchgeführt, etliche Schülerinnen und Schüler interviewt. Das Ergebnis: Bei vielen Mädchen ist die «intrinsische Motivation» höher. «Sie interessieren sich mehr fürs Lernen», sagt er. Buben sind tendenziell eher oldschool, fokussieren auf klassische Jungsfächer wie Mathe oder Physik. Mädchen hingegen sind vielfach offener, vielseitiger interessiert. Vielleicht ist dieses Wollen aber auch ein Müssen.
«Später will ich als Frau mal auf eigenen Beinen stehen. Erfolgreich sein. Aber ja, dafür muss ich etwas machen.» (Nora) «Wenn man lieber lernt, als etwas anderes zu machen, heisst es unter Jungs: Warum?! Der Test ist doch erst in einer Woche.» (Yannis)
Frauen spüren laut Andreas Hadjar instinktiv früh: Will ich etwas werden, muss ich mich reinhängen, mich beweisen. Selbst, wenn sie von Natur aus supersmart sind. Sie trauen ihren Fähigkeiten nicht. Er sagt: «Mädchen haben seit jeher ein schlechteres Selbstbild.» Selbstzweifel? Kennen Buben weniger. Nach wie vor. Schon von klein auf lernten viele im Elternhaus, die Ellbogen auszufahren, Dinge für sich einzufordern und vor allem, wie er sagt: von sich selbst überzeugt zu sein. Die jüngste Pisa-Studie gibt ihm recht: Mädchen trauen sich in Mathe weniger zu als Buben, selbst dann, wenn beide gleich gute Noten haben.
Wenn jemand stört, dann ein Bub
«In der Bezirksschule früher wurde es unter den Buben schneller mal laut, wir waren ruhiger.» (Jenni) «Bei uns war das auch so, wir haben mehr Seich gemacht. Im Gegensatz zu uns mussten die Mädchen fast nie vor die Tür.» (Demian)
Faulpelze, Störenfriede – selten sind es Mädchen. Die Jungs können nur bedingt etwas dafür. Laut dem Neurowissenschaftler Lutz Jäncke zünden sie später. Ihr Stirnlappen, der Teil des Gehirns, der die Impulse steuert und die Fähigkeit zur Selbstdisziplin, braucht demnach rund anderthalb Jahre länger, um zu reifen.
Etwas anderes macht Bildungsforscher Hadjar dafür verantwortlich: eine Gruppendynamik unter Buben, bei der Schule und Lernen als doof gelten. So störe mancher Junge häufiger. Wäre er fleissig, hiesse es: Streber. Also macht er lieber Dinge kaputt, ist ein Grossmaul, tritt andere Kids – und gilt unter den Jungs als «cooler Typ». Die Kehrseite: Er lenkt sich selbst vom Unterricht ab. Bekommt viel weniger mit. Sabotiert sich selbst. Laut Hadjar ist erwiesen: «Lehrpersonen honorieren negatives Verhalten mit schlechten Noten.»
Die Lehrer, ihr Anteil am Schulerfolg – diese Debatte ist fast so alt wie der Berufsstand. Vor einigen Jahren machte man die Lehrerinnen (ja, weiblich) für das Hinterherhinken von Jungs verantwortlich: Sie würden Buben diskriminieren. Das hat die Forschung widerlegt. Geblieben aber ist das Problem: Manche Buben klinken sich aus. Immer mehr. Doch was bedeutet das? Ist der Mann künftig ein Auslaufmodell – im Job, als Mitverdiener in der Familie?
Bildungsferne am meisten gefährdet
Nicht wirklich. Gefährdet ist laut dem Bildungsforscher besonders eine ganz bestimmte Gruppe, die rein statistisch das ganze Feld herunterzieht: Buben, deren Eltern nur wenige Schuljahre im Bildungsrucksack haben, als Putzkraft oder in der Fabrik arbeiten und mitunter zugewandert sind. Die Bildungsfernen. «Um diese Jungen müssen wir uns Sorgen machen», sagt Hadjar. Ihretwegen rät er, sich dringend um den Geschlechterunterschied in der Bildung zu kümmern. Sonst rücke eine Gruppe von Jungs nach, die künftig häufiger arbeitslos sei, schlimmstenfalls kriminell und krank sowie wegen all dem oft auch noch früher sterbe.
Das Drama des abgehängten Jungen – längst ist es auch beim Männerpsychologen Markus Theunert angekommen. Er leitet Männer.ch, die Fachstelle für Männer- und Geschlechterfragen und spricht von «Pechvögeln», und sagt: «Für sie interessiert sich niemand, solange sie nur Probleme haben, aber nicht stören.»
Er erklärt das Phänomen so: Diese Buben stehen besonders unter Druck. Sie sind mit zwei konkurrierenden Idealen davon konfrontiert, was ein Mann ist. Heute fordert man in der Schule, im Sportverein, im Lehrbetrieb von Buben allerhand, was man lange nur Mädchen zugesprochen hat: Empathisch, kooperativ, fleissig, ruhig und leistungsorientiert sollen sie sein. Das aber zählt in der gleichaltrigen Jungengruppe oft wenig. In bildungsfernen Milieus leben auch die Eltern eher alte Rollenmuster vor: der Mann als Ernährer, der weiss, wie man einen Reifen wechselt, gut im Sport ist, sich zu wehren weiss und für den Lernen etwas für Weicheier ist.
Das stellt laut Theunert die Buben vor ein unauflösbares Dilemma. Und erzwinge eine absurde Entscheidung: entweder echter Kerl oder schulischer Erfolg. Er sagt: «Ihnen fehlen Rollenmodelle, die vielfältiges, auch widersprüchliches Mannsein vorleben.»
Vielleicht ist das ein Anfang. Vielleicht könnte man hier ansetzen. Beide Experten, Hadjar und Theunert, raten zu gemischteren Lehrkräfte-Teams in der Schule, Kindergarten und Kita. Heute gibt es allein an der Primarschule einen Frauenanteil von 83 bis 95 Prozent. Theunerts Forderung: eine Männerquote in pädagogischen Berufen.
Einfach ist das nicht. Die Schulen haben noch immer Mühe, überhaupt Lehrkräfte zu finden. Vielleicht täte ein solches Ziel aber gut, dann könnte man Massnahmen wie beispielsweise Schnuppertage für berufsumsteigewillige Männer planen. Und zumindest auf gemischtere Teams hinarbeiten.