722 Tage. So lange dauerte es vom ersten Corona-Fall in der Schweiz bis zum vergangenen Mittwoch, als der Bundesrat die Akut-Phase der Pandemie für beendet erklärte. Es waren 722 Tage, die derart viel Leid brachten, dass sogar die Staatskasse Emotionen widerspiegelt. Seit Beginn der Pandemie hat der Bund über 23 Milliarden Franken in die soziale Wohlfahrt gesteckt, wie diese Woche veröffentlichte Zahlen zeigen (vergleiche Grafik). Das sind Hilfen für Personen und Unternehmen, die ihren Job verloren oder grosse Umsatzeinbussen hatten. Trotz dieses dichten Netzes an Sofortmassnahmen gibt es jedoch Menschen, die durch alle Maschen gefallen sind.
Menschen wie Sandra Brigger (39). Die Walliserin hatte über Jahre mühsam und mit viel Herzblut ihre Selbständigkeit aufgebaut. 2019 kann sie mit ihrem Fotostudio einen schönen Gewinn einfahren. Kann sogar eine Teilzeitangestellte anstellen und voller Optimismus in die Zukunft schauen. Dann kommt Corona.
In einem Monat gab es 26.40 Franken
Die Aufträge fallen weg, weil niemand mehr heiratet, Porträts will oder Marketingbudgets für Immobilienprospekte hat. Weg ist schnell auch der Gewinn von 2019. Weg ist irgendwann auch die Teilzeitangestellte. Und der Optimismus. Um nicht in Konkurs zu gehen, muss Brigger 40'000 Franken aus ihrem Erbe in das Unternehmen einschiessen. Den Grossteil ihrer Altersvorsorge. Um Kosten zu sparen, zieht sie zum Partner. «Ich war verzweifelt, überlegte ernsthaft, meinen Traum aufzugeben und etwas anderes zu machen», sagt sie zu Blick.
Auch der Bund kann ihr nicht wirklich helfen. Kurzarbeitsentschädigung bekommt sie nicht, weil sie kurz vor Ausbruch der Pandemie eine GmbH gegründet hat. Die Härtefallentschädigung verpasst sie, weil ihr Umsatz nur um 50 und nicht um die geforderten 55 Prozent zurückgeht. Als sie weiter ihre Anträge ausfüllt und endlich Geld vom Staat erhält, ist es so wenig, dass es ihr den Hals zuschnürt. Einmal erhält sie für einen Monat 26.40 Franken Erwerbsausfallentschädigung.
6000 Franken gespendet
Sie beschliesst, sich selber zu helfen. Und trifft auf Gleichgesinnte. Auf Facebook postet sie ein emotionales Video, in dem sie ihre Nöte und Ängste schildert. Es geht viral. Dadurch erfährt sie vom Verein Lohnteilen. Wer wegen der Pandemie in finanzielle Nöte gerät, erklärt der Organisation in einem E-Mail die Situation und erhält Unterstützung – sofern Geld vorhanden ist. Denn die Beträge stammen aus Spenden.
Einer, der dort eingezahlt hat, ist Bernhard Schmutz (58). Der Bieler hat während der Pandemie 6000 Franken an verschiedene Organisationen gespendet, darunter Lohnteilen. Auch der 58-Jährige verzeichnete im ersten Corona-Jahr als Selbständiger Umsatzeinbussen von über 50 Prozent. «Alle Aufträge fielen weg oder wurden auf irgendwann verschoben», sagt er.
«Bringt nichts, zu viel Geld zu haben»
Doch im Gegensatz zu Sandra Brigger profitierte Schmutz vom Staat, erhält teilweise Erwerbsersatz. Er sagt: «Ich bin mit einem blauen Auge davongekommen. Darum will ich etwas zurückgeben.» Er habe das Glück, bereits erwachsene Kinder zu haben und eine Ehefrau, die ebenfalls arbeite. Zudem lebe er recht bescheiden und achte auf überschaubare Fixkosten. Zwar hätten seine Umsätze nach wie vor nicht Vor-Corona-Niveau erreicht. Doch das Geschäft laufe unterdessen wieder etwas besser, und zufrieden sei er sowieso. «Es bringt doch nichts, zu viel Geld zu haben. Hauptsache, ich kann davon leben.»
Sandra Brigger erhält von Lohnteilen 900 Franken. Das scheint nicht viel zu sein, doch für Brigger ist es ein Wendepunkt. Sie gewinnt die Hoffnung zurück. Ab Frühling 2021 heiraten die Menschen wieder, die Selbständigkeit ist nicht mehr in Gefahr. Brigger bildet sich weiter. Kann nun sogar wieder träumen: «Dieses Jahr starte ich mit der Iris-Fotografie so richtig durch!»
Geholfen hat ihr sicher, dass sie nie aufgegeben hat. «Die Leute dürfen sich nicht schämen, um Hilfe zu bitten», ist Briggers Kernbotschaft. Wichtig ist ihr, auch zurückzugeben, sobald das möglich ist. «Wenn es einem besser geht, gibt man. Wenn es schlechter geht, darf man auch nehmen. Wenn wir so miteinander umgehen, wird das Leben für alle besser.»