«Was geht morgens auf vier Beinen, mittags auf zwei Beinen, abends auf drei Beinen und ist umso schwächer, je mehr Füsse es bewegt?» Eines der ältesten Rätsel der Menschheit. Die Sphinx stellt es laut dem antiken Ödipus-Mythos jedem Wanderer, der vorbeikommt. Löst der arme Teufel es nicht, frisst oder erwürgt sie ihn oder stürzt ihn in eine Felsspalte. Das kommt mir jetzt in den Sinn. Ich stehe am Berg, blicke hoch zum Gipfelkreuz, noch ist es ganz klein. Steil steigt der Wanderweg vor mir an, die Sonne knallt, der trockene Boden knirscht.
Ich lehne mich nach vorne, damit mich der vollgestopfte Rucksack nicht rückwärts den Hang runterzieht, dafür klebt er auf meinem Rücken. Schweiss, überall Schweiss. Warum tue ich das? Warum gehe ich nicht irgendwohin, wo mich eine Bergbahn hochbringt? Warum bleibe ich nicht unten am Fluss und döse im Schatten der Tannen? Das wäre Erholung.
Nein, wäre es nicht. Das begreife ich, während ich hochwandere. Die Antwort auf das Sphinx-Rätsel verrät: Der Mensch ist dieses Wesen – als krabbelndes Kind, als Erwachsener, der auf eigenen Füssen steht, und als auf einen Stock gestützter Greis. Immer ging es ums Gehen. Auch wenn es mühselig ist. So habe ich es mir zumindest beim Start vorgestellt: Ich lasse den Stress hinter mir, wandere dem Alltag davon. Anders als die Spaziergänger oder Passanten. Sie wollen unter die Leute kommen. Im Wissen, dass sie eine Stunde später wieder die wohlige Wohnzimmercouch erreichen und den Fernseher einschalten werden. Ich hingegen bin losgegangen, um Abstand zu gewinnen. Doch jetzt, wo ich im stotzigen Hang einen Fuss vor den anderen setze, dämmert mir: Geschenkt kriege ich das nicht.
Massenfaszination Berge
Die Schweiz ist ein Land von Berggängerinnen und Berggängern. 373'123 Hütten-Übernachtungen zählte der Schweizer Alpen-Club (SAC) vergangenes Jahr. Die meisten Betten belegen Wandernde. Vier Millionen Menschen in der Schweiz gehören laut dem Verein Schweizer Wanderwege zu ihnen, das sind 58 Prozent der Bevölkerung. Das klingt erst mal schön. Kann aber tragisch enden.
Seit Jahren nimmt die Zahl der Unfälle im Bergsport und beim Wandern zu. Die Statistik der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) zeigt: Anfang der Nullerjahre waren es jährlich rund 17’700, heute rund 40’000. Es ist paradox. Wandern, Klettern, Skitourenfahren, all das ist anstrengend, mitunter gefährlich. Trotzdem verlieren die Berge nichts von ihrer Strahlkraft. Im Gegenteil, an der steigenden Zahl der Unfälle kann man ablesen, dass sie seit Jahren zunimmt. Doch warum gehen wir dieses Risiko ein? Was zieht so viele von uns in den Bann der Bergwelt?
800 Millionen Kilometer legen Schweizer Wanderer laut einer Studie des Vereins Schweizer Wanderwege jedes Jahr zurück – das entspricht 20’000 Erdumrundungen.
4634 m ü. M. liegt die Dufourspitze VS und ist damit der höchste Berg der Schweiz und des ganzen deutschsprachigen Alpenraums.
60 Prozent des Schweizer Staatsgebiets gehören zum Alpenraum.
23 Kilometer lang ist der längste Gletscher der Alpen, der Aletschgletscher VS.
48 von insgesamt 82 Alpengipfeln über 4000 Meter liegen in der Schweiz.
800 Millionen Kilometer legen Schweizer Wanderer laut einer Studie des Vereins Schweizer Wanderwege jedes Jahr zurück – das entspricht 20’000 Erdumrundungen.
4634 m ü. M. liegt die Dufourspitze VS und ist damit der höchste Berg der Schweiz und des ganzen deutschsprachigen Alpenraums.
60 Prozent des Schweizer Staatsgebiets gehören zum Alpenraum.
23 Kilometer lang ist der längste Gletscher der Alpen, der Aletschgletscher VS.
48 von insgesamt 82 Alpengipfeln über 4000 Meter liegen in der Schweiz.
Die Frage steht schon seit Jahrhunderten im Raum. «Lediglich aus dem Verlangen, die namhafte Höhe des Orts kennenzulernen», soll der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304–1374) gesagt haben, der wegen der Besteigung des Mont Ventoux (F) im Jahr 1336 als erster Bergsteiger überhaupt gilt. «Weil er da ist», sagte 1923 der Brite George Mallory (1886–1924) auf die Frage eines Reporters, warum er unbedingt den Mount Everest (Nepal) bezwingen wolle – und der dann auf der Tour starb. «Um tief in mich hineinsehen zu können», schrieb 1978 der Promi-Alpinist Reinhold Messner (80) auf dem Klappentext seines Buchs «Everest».
Boris Previšić (52) denkt viel über die Alpen nach. Er ist Kulturwissenschaftsprofessor, leitet das Urner Institut Kulturen der Alpen in Altdorf, publizierte das Buch «Gotthardfantasien» und gibt das Onlinemagazin «Syntopia Alpina» heraus, das sich mit den Herausforderungen im Alpenraum befasst. Previšić sagt: «Die Menschen nehmen die Berge seit jeher als Schutzraum wahr.»
Sie fühlten sich dort geborgen. Die jahrhundertealte Tradition der Menschen, sich zur Besinnung in Bergklöster zurückzuziehen, zeugt davon. Auch dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs ihr Reduit in den Alpen verschanzte. Oder die Städterinnen und Städter während der Pandemie dort Zuflucht suchten. Was sich veränderte: unser Bezug zu ihnen. Previšić sagt: «Die Berge als Freizeit- und Erholungsort sind ein neueres Phänomen der Moderne.»
Es begann mit den Briten
Lange dachte kein Bergbewohner, keine Bergbewohnerin in der Schweiz daran, die Gipfel der Alpen zu besteigen. Sie bauten Kristalle ab, sömmerten das Vieh und holten Ernteerträge ein. Bis im 19. Jahrhundert die Engländer kamen. Sie brachten der Schweiz den Alpinismus und den Tourismus.
Die britischen Abenteurer gehörten zum Bildungsbürgertum. Anders als die in Armut lebenden Berglerinnen und Bergler hatten sie viel freie Zeit und genug Geld, um lange Reisen zu finanzieren. Die Bergorte reagierten darauf. Bauten Hotelpaläste, Tennis- und Cricketplätze. Zermatt und Grindelwald wurden laut dem Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) die ersten Zentren des Alpinismus. Die Einheimischen begleiteten die Engländer auf ihren Touren, zeigten ihnen den Weg, lehrten sie, wie man im Gebirge zurechtkommt. Auf Augenhöhe war das nicht. Der Kulturwissenschaftler Previšić sagt: «Die Briten betrachteten den Schweizer Alpenraum zumindest touristisch wie andere Kolonien.»
Doch sie stiessen einiges an: 1857 gründeten sie den British Alpine Club – den ersten seiner Art überhaupt, um ihr Wissen über die hiesigen Berge auszutauschen. 1863 zogen die Bildungsbürger aus der Schweiz mit dem Schweizer Alpen-Club nach. Ihr Ziel: die Schweizer Wandermuffel wachrütteln. Doch so richtig gelang das erst in den Nachkriegsjahren. Wandern wurde erst ab da ein Volkssport.
Wie Meditation, nur naturnaher
Als Kind rümpfte ich schon beim Wort Wandern die Nase. Meine Eltern waren es gewohnt, in die Berge zu gehen. Ihre Generation war gross geworden, als man am Schweizer Radio noch zur legendären Radiowanderung aufrief und sich mehrmals im Jahr bis zu 1500 Menschen aus allen Himmelsrichtungen gemeinsam zu einer geführten Tour aufmachten. 1979 schaffte es der Schutz und Erhalt der Wanderwege sicher auch deshalb in die Bundesverfassung. Als Knirps sah ich in all dem keinen Sinn. Kaum hatten wir den Parkplatz Richtung Wanderweg verlassen, jammerte ich: «Ich kann nicht mehr.» So ging das bis zum Bergrestaurant, wo ich vor einem Teller Pommes sass und aufatmete: Nun ging es wieder heimwärts.
Ich verstand nicht, warum Menschen freiwillig zu Fuss gehen, wenn man doch mit dem Auto von A nach B fahren kann. Ich wusste noch nichts vom verheissungsvollen Moment des Aufbruchs, in dem man nicht weiss, was einen erwartet. Ich hatte kein Auge für die Schönheit der Alpen, die mich heute wie ein Schock trifft, ein freundschaftlicher Hieb in die Magengrube. Sie zeigt sich im Blick, der sich verändert, je höher man steigt: Hier eine violett und gelb betupfte Weide, dort ein steiler Abgrund, mal ein felsiger Zacken, mal Flüsse, Seen, Schluchten, Tannenwälder und ganz viel Weite. In den Bergen vergesse ich, was war. Bin ganz im Jetzt. Das klingt esoterisch, ist aber rational.
Der Neuropsychologe Arne Dietrich von der American University of Beirut im Libanon fand als einer der Ersten heraus: Bewegt sich der Mensch lange und intensiv, ist das Gehirn mit der Koordination dieser Bewegungen beschäftigt. Es denkt nicht in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft. Nur im Jetzt. Flow nennt er das. Und dauert eine Bergtour sehr lange, verliert man unter Umständen sogar das Gefühl für das eigene Selbst und wird eins mit der Natur.
Wenn leiden Sinn macht
Da bin ich. Oder hänge ich. Mit zwei Händen an einem Strauch. Ich bin vom Weg abgekommen, habe mich verlaufen und finde mich plötzlich in einem schroffen, unwirtlichen Abhang wieder. Umkehren geht nicht. Das realisiere ich jetzt. Kalter Schweiss kriecht in meinen Körper. Ich will ihn abschütteln. Fixiere weit unter mir die Fenster, die in der Sonne gleissen. Eine Alphütte. Dort will ich hin. Ich rutsche in kleinen Schritten talwärts, hangle mich von Alpenrose zu Alpenrose. Alle in voller Blüte. Der ganze Hang lodert purpurfarben. Wie kann etwas gleichzeitig so schön und so gefährlich sein? Vielleicht besteht gerade darin der Reiz.
In den hiesigen Bergen sterben Menschen. 78 waren es laut BfU letztes Jahr. Ich weiss, dass die meisten der Unfälle passieren, weil jemand ausrutscht, stolpert, stürzt. Einmal bin ich nun auf dem Weg zur Alphütte schon gestolpert, zweimal gestürzt. Bergsteigerinnen und Bergsteiger tun das ständig. Sie steigen auf einen Berg, setzen sich der Gefahr aus, zu sterben, nur um dann wieder runterzuklettern – eigentlich stumpfsinnig.
Darüber wunderte sich auch der Verhaltensökonom George Loewenstein (69). Der US-Amerikaner ist Berggänger und Kanufahrer. Vor ein paar Jahren kam er bei einer Wassertour fast ums Leben und schwor sich, nie wieder in ein Kanu zu steigen. Kurz darauf tat er es wieder. Loewenstein war darüber selbst erstaunt und sprach mit zahlreichen Extremsportlerinnen und -sportlern. Er stellte fest: Ausnahmslos alle hassen, was sie tun. Sie frieren, hungern, haben Angst, verlieren Finger, Zehen und Kameradinnen und Kameraden. Doch alle sagen: Es habe sich gelohnt. Sie überhöhen das Erlebte, erzählen, erst dadurch seien sie zu kompletten Menschen geworden.
Der Mensch sucht das Leiden. Er läuft Marathon, überarbeitet sich für ein Herzensprojekt, zieht Kinder gross, obwohl es ihn manchmal an die Grenzen bringt. Das Buch «The Sweet Spot» des kanadischen Psychologieprofessors Paul Bloom (60) bringt es auf den Punkt: Widrigkeiten sind hoch attraktiv, sofern wir sie uns selbst ausgesucht haben. Sie laden das, was wir tun, mit Bedeutung auf. Mit Sinn.
Neues Verhältnis zur Bergwelt
Doch wie lange noch holen wir uns diesen Sinn in den Bergen? Wie lange noch lassen sie es zu?
2020 schaute sich die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) anlässlich einer Studie an, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Wanderwege hat. Grosse – so ihr Fazit. Steinschläge, Murgänge und Felsstürze werden zunehmen. Die Vorboten kennen wir. Bondo GR. Gondo VS. Brienz GR. Die Katastrophen hinterlassen Spuren. Sie machen etwas mit uns.
Die Menschen begreifen den Alpenraum nicht mehr nur als spirituelle Quelle, sagt Alpenforscher Previšić. «Sie realisieren nun, dass man ihn schützen und sorgfältig mit ihm umgehen muss.» Was das heisst, verhandeln wir derzeit als Gesellschaft. Landschaftsschutz, alpine Solaranlagen, Biodiversität – all das liegt auf dem Tisch. Auf Jahre hinaus wird es uns beschäftigen. Fest steht: Unser Verhältnis zur Bergwelt verändert sich. Einmal mehr.
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