Auf einen Blick
- Richard Lehner ist Bergführer in dritter Generation
- Das Matterhorn zieht jährlich über 3000 Menschen an
- Lehner bestieg den Gipfel schon über 250 Mal
Wie oft hast du schon das Matterhorn bestiegen?
Richard Lehner: Über 250 Mal. Das erste Mal bin ich mit 18 Jahren auf den Gipfel. Ich stieg meinem Vater nach. Er war Bergführer und hat das Horn geliebt. 600 Mal war er dort oben und kannte die Route in- und auswendig. Er ist zügig hoch, und ich musste schauen, dass ich dranbleibe. Wenn ich mal zwei Meter daneben war, hat er mich korrigiert. So daneben war es aber gar nicht.
War er ein strenger Lehrer?
Nein, wir hatten es immer lustig. Bereits mein Grossvater war Bergführer, als Bub bin ich oft auf kleine Touren mit. Wie man sich im Gebirge bewegt und das Klettern, das habe ich gelernt wie andere das Laufen, das war ganz natürlich.
Und wie oft willst du noch aufs Matterhorn?
Nicht nochmals 250 Mal. Mir hat es dort manchmal zu viel Rummel, und es gibt auch viele andere schöne Gipfel und Routen. Aber natürlich ist das «Horu», so nennen wir das Horn liebevoll auf Walliserdeutsch, unser Hausberg und Wahrzeichen hier in Zermatt.
Über 3000 Leute wollen jedes Jahr hinauf, was fasziniert so?
Man muss nur aus dem Fenster schauen. So wie dieses Horn allein für sich steht und alles andere überragt. Es sieht in jedem Licht anders aus und strahlt eine ganz besondere Magie und Kraft aus. Dieser Gipfel ist weltweit einmalig. Dass sich die Menschen davon angezogen fühlen, ist nicht erstaunlich.
Daran scheitern auch viele, und sie müssen umkehren. Am Matterhorn sind knapp 600 Alpinisten in den Tod gestürzt. Was macht das Horn so gefährlich?
Es ist ein komplexer und anspruchsvoller Aufstieg. Manche überschätzen sich selbst und unterschätzen den Berg. Es fehlt das Können und die Kondition, oft kommt eine ungenügende Ausrüstung dazu, und manche sind ohne Bergführer unterwegs. Dann können sie den Zeitplan nicht einhalten.
Wie lange dauert die Tour?
Normalerweise acht Stunden, manche sind aber drei Tage und Nächte unterwegs. Wir Bergführer gehen um vier Uhr morgens los, dann sind wir mit unseren Gästen gegen Mittag wieder unten. Manchmal kommt nachmittags um 16 oder 17 Uhr ein Notruf rein. Dann müsste man längst wieder unten sein oder umkehren, wenn man es nicht rechtzeitig bis nach oben schafft.
Du bist auch als Bergretter im Einsatz. Ärgern dich solche Situationen manchmal?
Jeder kann in Not geraten. Aber wenn es aus Leichtsinn passiert, und das ist leider immer häufiger der Fall, dann habe ich nicht so Verständnis dafür. In vielen Fällen müsste es nicht so weit kommen, wenn man die Grundregeln des Bergsteigens respektiert. Das gilt auch für Wanderungen.
Vor zwei Jahren hast du eine junge Russin aus einer Gletscherspalte geholt, sie war in Turnschuhen unterwegs.
Und allein! Sie war bei uns auf der Monte-Rosa-Hütte und wollte den Gletscher nach Italien überqueren. Trotz allen Warnungen und Ratschlägen ist sie in Shorts und Sneakers los. Unterwegs wurde sie erneut von einem Bergführer gewarnt. Aber sie war unbelehrbar.
Und dann?
Hat sie der Gletscher gefressen. Zwei Tage später hörten sie Berggänger aus der Spalte rufen. Aus 15 Metern Tiefe. Sie war seit über 48 Stunden im Eis gefangen und hatte nur einen kleinen Absatz, auf dem sie stehen konnte. Ihre Körpertemperatur war noch 28 Grad. Es war ein Wunder, dass sie das überlebt hat. Oben haben wir sie gewärmt, so gut wir konnten. Ich flog dann gleich weiter zur nächsten Rettung. Die werde ich auch nicht vergessen.
Warum?
Ich ging an der Seilwinde in eine Gletscherspalte hinunter, um einen Bergsteiger zu bergen. Ich landete auf einer Art Eisbrücke, aber sie stürzte unter mir ein, und ich fiel ins Eiswasser. Der Mann unten war so froh, dass ich da war, und zugleich in Panik, dass er mir nach gesprungen ist und sich an mir festhielt. Ich konnte den Funk nicht bedienen und hatte im eiskalten Wasser Mühe, uns über Wasser zu halten. Bis die Kollegen oben gecheckt haben, dass sie uns hochziehen müssen.
Hast du manchmal Angst ums eigene Leben?
Eine Situation, in der ich wirklich Angst hatte, war bei einer Rettung auf dem Breithorn-Plateau. Er gilt als einer der einfachsten Viertausender. Ein Mann hatte eine Fussverletzung, und wegen des schlechten Wetters konnten wir nicht mit dem Helikopter hin, darum sind wir mit Rettungsschlitten hoch. Auf dem Weg retour zum Klein Matterhorn zog eine riesige Gewitterfront über uns her.
Richard Lehner kommt am 26. August 1972 in Zermatt VS in einer Bergsteigerfamilie zur Welt. Mit 23 Jahren wird er zum jüngsten Bergführer in Zermatt. Er kennt das Matterhorn wie kein Zweiter. 2011 erhält Lehner zusammen mit dem Helikopterpiloten Daniel Aufdenblatten den Heroism Award in Washington, D.C. Ihnen gelang 2010 am Annapurna (Nepal) auf 7000 m ü. M. die höchste je ausgeführte Bergrettung. Lehner führt das Hotel Basecamp in Zermatt und ist zusammen mit Kilian Emmenegger Hüttenwart der Monte-Rosa-Hütte auf 2883 m ü. M.
Richard Lehner kommt am 26. August 1972 in Zermatt VS in einer Bergsteigerfamilie zur Welt. Mit 23 Jahren wird er zum jüngsten Bergführer in Zermatt. Er kennt das Matterhorn wie kein Zweiter. 2011 erhält Lehner zusammen mit dem Helikopterpiloten Daniel Aufdenblatten den Heroism Award in Washington, D.C. Ihnen gelang 2010 am Annapurna (Nepal) auf 7000 m ü. M. die höchste je ausgeführte Bergrettung. Lehner führt das Hotel Basecamp in Zermatt und ist zusammen mit Kilian Emmenegger Hüttenwart der Monte-Rosa-Hütte auf 2883 m ü. M.
Was habt ihr gemacht?
Wir sind in Kauerstellung. Der Donner hat uns fast die Ohren zerschlagen, rundum schlugen Blitze ein, und nach 40 Minuten waren wir von 30 Zentimeter Graupel zugedeckt. Auf dieser Höhe ist man den Elementen viel stärker ausgesetzt, es ist echt heftig. Angst machen mir Situationen, die ich nicht kontrollieren kann, so wie ein Steinschlag, eine Lawine oder ein Unwetter. Technische Schwierigkeiten kann man selber abschätzen.
Was macht so eine Erfahrung mit dir?
Von Blitz und Donner habe ich genug. Wetterstürze kann es immer geben, aber ich versuche, Unwetter zu vermeiden. Wenn sich was zusammenbraut, kehre ich lieber um.
Manchmal müsst ihr Verstorbene bergen. Wie ist das für dich?
Das ist immer eine Belastung, auch weil es für die Rettung zu spät ist. Ich gehe das so pragmatisch wie möglich an. Und in dem Moment, in dem wir den Leichensack zumachen, versuche ich auch selber damit abzuschliessen und keine Bilder mit nach Hause zu nehmen. Manchmal kommt es vor, dass wir Angehörige später an die Absturzstelle begleiten, damit sie sich verabschieden können.
Du bist nicht nur Bergführer, sondern auch Hotelier in Zermatt und Hüttenwart auf dem Monte Rosa. Wie schaffst du das alles?
Das mache ich nicht allein, sondern im Team mit anderen. Als meine Söhne noch klein waren, habe ich gemeinsam mit meiner Frau die Gandegghütte geführt. Es ist eine traditionelle Hütte mit Massenschlägen, ohne fliessendes Wasser und mit Plumpsklo. Das war teils herausfordernd, aber auch eine gute Zeit für die Familie.
Dagegen ist die Monte-Rosa-Hütte luxuriös, kann man bei 120 Betten noch von Hütte reden?
Es ist ein hochmoderner Bau mit Solarpanel, Kläranlage und Einzelzimmern. Das ist ein gewisser Luxus für die Gäste, aber auch für die Angestellten bietet es mehr Komfort. Also ich habe nichts gegen eine warme Dusche nach einer Bergtour, ich kann aber auch ohne. Es kommt immer darauf an, wo und wie man unterwegs ist.
In letzter Zeit hört man viele Klagen von Hüttenwarten über respektlose Gäste, wie ist das bei dir?
Hier kommt nur hoch, wer sicher im alpinen Gelände unterwegs ist. Vier Stunden dauert die anspruchsvolle Route ab der Station Rotenboden der Gornergratbahn zur Hütte hoch. Dadurch kommen meist erfahrene Berggänger hoch. Natürlich halten sich nicht immer alle an die Regeln, aber das gibt es überall, und ich sehe das entspannt.
Was sind das für Regeln?
Die Bergschuhe und Steigeisen am Eingang lassen oder den Teller selber abräumen. Manche Gäste stehen schon um drei Uhr auf, weil sie auf ihre Tour gehen. Wenn da einer seinen Teller vergisst, ist das nicht schlimm. Andere geniessen den Sternenhimmel und gehen erst um Mitternacht ins Bett. Wir haben also Betrieb rund um die Uhr, und jeder muss auf den anderen Rücksicht nehmen.
Stichwort Overtourism, wie erlebst du den Besucherstrom in Zermatt?
Es gibt schon gewisse Orte, an denen es zu sehr grossen Menschenmengen kommt. Zum Beispiel am Stellisee, wo sich das Matterhorn im Wasser spiegelt. Oder auf dem Gornergrat am Riffelsee. Manche kommen einfach für ein Foto hoch. Klar freuen sich die Leute über den schönen Anblick der Berglandschaft. Aber wir müssen auch achtgeben, dass wir nicht zu einem alpinen Disneyland werden.
Gibt es noch unberührte Flecken?
Ja, man muss eigentlich nur ein paar Meter weiter in eine andere Richtung abbiegen, und dann taucht man wieder ganz allein in die Stille der Bergwelt ein.
Wie oft bist du noch als Bergführer unterwegs?
Ich gehe nur noch mit meinen Stammgästen auf Touren, das sind zum Teil Leute, die ich seit 20 Jahren kenne. Mit diesen privaten Gruppen organisiere ich Berg- und Skitouren in Grönland, Norwegen und Südamerika. Aufs Matterhorn gehe ich nur noch mit Gästen, die auch entsprechende Erfahrung mitbringen und dafür trainiert haben.
Du warst auch mit berühmten Persönlichkeiten in den Bergen unterwegs, so wie Phil Collins?
Darüber kann ich nichts erzählen. Aber ja, da war alles dabei, von Popstars, Astronauten und Politikern. Das sind sehr schöne Erlebnisse, und es ist spannend, solche Persönlichkeiten in einem ganz anderen Umfeld kennenzulernen und ihnen die Bergwelt näherzubringen.
Sind am Berg alle gleich?
Wir sind alle per Du! Und wenn man näher am Himmel und den Elementen ist, kommt man sich auch menschlich näher und hat einen anderen Austausch. Für mich sind das keine Superstars, und das wollen sie auch nicht sein.
Was lernt man über sich unterwegs im Gebirge?
Man lernt sich besser kennen. Am Berg zeigt sich die wahre Natur des Menschen. Dadurch, dass man das gewohnte Umfeld und die Komfortzone verlässt, kommen Schwächen und Stärken an die Oberfläche. Wer über seine Grenzen geht und mal etwas länger durchhält, bis der Gipfel erreicht ist, hat auch ein Erfolgserlebnis. Das ist eine Erinnerung fürs Leben und kann im Alltag stärken.
Bleibt dir noch Freizeit?
Ich nehme mir schon meine Tage, an denen ich abschalten kann. Das ist auch etwas saisonbedingt. Manchmal arbeite ich quasi durch, aber dann gibt es auch wieder Luft. Am liebsten mache ich mit meinen Söhnen was. Auf den Ski oder mit dem Bike. Ich muss nicht jedes Mal bis ganz oben auf den Gipfel.