Getötete Sophie (†3) aus Hägglingen AG litt unter Cerebralparese – Experte erklärt
«Darf nicht sein, dass Eltern Töten als letzten Ausweg sehen»

Um sie von ihren Qualen zu erlösen, haben die Eltern das Leben ihrer schwerbehinderten Sophie (†3) beendet. Das Mädchen aus Hägglingen AG litt unter Cerebralparese. Experten erklären, was die Behinderung mit sich bringt und was die Diagnose für Eltern bedeutet.
Publiziert: 06.10.2023 um 00:15 Uhr
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Aktualisiert: 06.10.2023 um 13:30 Uhr
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Emilie T. soll zusammen mit ihrem Mann Töchterchen Sophie umgebracht haben. Das Mädchen litt unter Cerebralparese.
Foto: zVg
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Carla De-VizziRedaktorin News

Eine Kindstötung aus Hägglingen AG sorgte diese Woche für Empörung: Emilie T.* (31) und Urs D.* (33) mischten ihrer schwerbehinderten Tochter Sophie T. (†3) Ecstasy in den Schoppen und erstickten sie anschliessend mit einem Tuch. Die Tat geschah im Mai 2020.

Inzwischen haben sich die geständigen Täter öffentlich geäussert und erklärt, warum sie es wieder tun würden. «Wir haben unsere Tochter erlöst», so die Eltern gegenüber der «Aargauer Zeitung». Sophie habe unter einer schweren Cerebralparese, einer Schädigung am Hirn, gelitten. Sie konnte weder schlucken noch sprechen oder selber gehen. Das Mädchen habe 24-Stunden-Pflege benötigt und habe ihr Leben lang unter Krämpfen gelitten.

Doch um welche Art von Behinderung handelt es sich bei einer Cerebralparese? Und: Was bedeutet die Diagnose für Eltern, die ein solches Kind haben? Blick hat bei Experten nachgefragt. 

Elektrorollstuhl, künstliche Ernährung und Muskelkrämpfe

Andreas Meyer-Heim (56) ist Chefarzt der Kinder-Reha Schweiz und arbeitet seit Jahren mit Kindern, die an Cerebralparese leiden. «Kurz gesagt handelt es sich bei der Behinderung um eine Bewegungsstörung, die als Folge einer Hirnschädigung vor oder um die Geburt entstanden ist», sagt der Experte, der sogar ein Buch zur Thematik herausgebracht hat, zu Blick. Wie schwer die Behinderung ausgeprägt ist, hänge vom Schweregrad ab. Dabei gebe es fünf Stufen. 

Während man Betroffenen des ersten Schweregrades die Behinderung kaum ansehe, handle es sich beim fünften Schweregrad um Menschen mit höchstem Pflege- und Überwachungsaufwand. «Das war wahrscheinlich bei dem Mädchen aus Hägglingen der Fall», so der Experte.

Davon geht auch Konrad Stokar (57), der Co-Geschäftsleiter der Vereinigung Cerebral Schweiz, aus. Ihm zufolge ist bei Menschen mit einer Cerebralparese dieser Kategorie von einer schweren Behinderung oder einer Mehrfachbehinderung auszugehen. So können sie sich beispielsweise ausschliesslich mit dem Elektrorollstuhl fortbewegen und müssen häufig künstlich ernährt werden. Oft leiden sie zudem unter schweren Muskelkrämpfen. «Diese können extrem schmerzhaft sein.» Auch kognitive Einschränkungen seien nicht ausgeschlossen.

Stokar ist ebenfalls von der Behinderung betroffen und weiss deshalb, wovon er spricht. Er selbst würde sich bei dem zweiten Grad einteilen. «Abgesehen von einer sichtbaren Gehbehinderung habe ich keine Einschränkungen.»

Schwerbehindertes Kind kann für Eltern grosse Belastung sein

Doch was bedeutet die Diagnose Cerebralparese für Eltern? «Viele fühlen sich alleingelassen und sind masslos überfordert», so Stokar, der bereits mit Hunderten Betroffenen zu tun hatte. Ähnlich sieht das der Chefarzt Andreas Meyer-Heim: «Für die meisten Eltern ist die Diagnose eine grosse Katastrophe.» Damit gehe nicht nur eine grosse Herausforderung, sondern auch häufig eine Enttäuschung einher. 

Obwohl Stokar nachvollziehen kann, dass ein schwerbehindertes Kind für Eltern eine Belastung sein kann, wühlt ihn der Fall aus Hägglingen auf. «Das ist absolut dramatisch. Es darf nicht sein, dass Eltern das Töten ihres Kindes als letzten Ausweg sehen.» Wichtig sei es deshalb, herauszufinden, weshalb bei gewissen Eltern diese Überforderung dermassen gross ist.

Zudem müsse man Menschen mit Cerebralparese klarmachen, dass sie nicht alleine sind. «In der Schweiz sind rund 16'000 Menschen von der Behinderung betroffen, 4000 davon sind Kinder. Das ist vielen nicht bewusst.» Dementsprechend gäbe es zahlreiche Unterstützungsangebote und Selbsthilfegruppe, welche Eltern entlasten, vernetzen und Betroffene unterstützen. 

*Namen geändert 


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