«Mir fehlt der Balkon»
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Der Schandfleck von Olten:«Mir fehlt der Balkon»

Ein Quartier im Mittelland wartet auf seine Rettung
«Schandfleck» Olten Südwest

Eine blauäugige Regierung und ein Zürcher Investor machten das Areal Olten Südwest zum Symbol gescheiterter Stadtentwicklung. Besuch in einem Quartier, das auch nach sieben Jahren nicht wirklich lebt.
Publiziert: 27.11.2022 um 13:19 Uhr
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Aktualisiert: 27.11.2022 um 22:36 Uhr
Foto: Philippe Rossier
Joschka Schaffner (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

An vielen Briefkästen hängen Spinnweben. Namensschilder fehlen, andere haben Mieter aus Klebeband und Filzstift gebastelt. Aus den Einwurfschlitzen quellen Gratiszeitungen.

Olten Südwest erinnert an diesem sonnigen Novembertag an eine sozialistische Arbeitersiedlung weit im alten Osten, deren Blütezeit Jahrzehnte her ist: fünfstöckige Wohnblöcke, zusammengepfercht, trostlose Innenhöfe, geschlossene Rollläden.

Briefkästen ohne Anschrift: Viele Wohnungen in Olten Südwest stehen leer.
Foto: Philippe Rossier

Umstrittene Architektur, leere Wohnungen, eine fehlende Stadtanbindung – es sind die Auswüchse des Baubooms im Schweizer Mittelland, in der Mitte zwischen Basel, Bern und Zürich. Hier wird das Verhalten einer Stadt sichtbar, die sich naiv von einem Zürcher Investor überrollen liess – und dies seit Jahren erfolglos zu beheben versucht.

Für viele Oltner und Oltnerinnen gilt das Quartier als «Schandfleck der Stadt». Beim Augenschein vor Ort dauert es etwas, bis endlich jemand angetroffen wird, der tatsächlich hier lebt. Eine Frau in Jogginghose bringt den Hauskehricht zur Entsorgungsstelle im hinteren Teil der Siedlung. Sie heisst Frederike Husmann, ist dreissig Jahre alt, und es gefällt ihr hier «eigentlich gut», wie sie sagt. Den Balkon vermisse sie. «Meine Freunde sagen, Südwest sähe aus wie ein DDR-Plattenbau», sagt Husmann. Sie bleibe hier – vor allem wegen der guten Kindertagesstätte, die ihr Sohn besucht.

Bleibt hier, auch wegen ihres Sohnes: Frederike Husmann vor einem der acht Wohnblöcke.
Foto: Philippe Rossier
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«Am Abend ist es hier dunkel und verlassen.»
Frederike Husmann
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Mühe bereitet ihr die schlechte Anbindung an die Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Von Montag bis Samstag hält hier nach 20 Uhr kein Bus mehr. Am Sonntag fährt gar keiner. «Am Abend ist es ziemlich unheimlich, zurück ins Quartier zu gehen. Es ist dunkel und verlassen – da habe ich schon etwas Angst», sagt Husmann. Eine Mieterin, welche hinter ihr gerade einen Abfallsack in die Öffnung der abgesenkten Entsorgungsgrube wirft, pflichtet lautstark bei. Viele Bewohnerinnen kennen das Gefühl.

Im neunten Stock im Gebäude der städtischen Verwaltung lehnt sich Stadtpräsident Thomas Marbet (55) in seinen schwarzen Ledersessel zurück. Er scheint entspannt und wirkt trotzdem müde. Während Marbet erzählt, schaut er durchs Fenster, dorthin, wo das Areal Südwest liegt. Es sieht aus, als hätte jemand einen Haufen Lego-Steine neben der Stadt deponiert. «Ich habe einen unverkrampften Bezug zum Areal», antwortet Marbet auf die Frage, wie ihm das Quartier gefalle. «Aber natürlich sehe ich, dass es in der Bevölkerung nicht so gut ankommt.»

Der Gemeinschaftsgarten am Rande der Siedlung: Auf der anderen Seite der Geleise spricht man nicht gut über das karge Areal.
Foto: Philippe Rossier

Olten ist nicht Zürich. Ein Satz, der natürlich stimmt, und der oft fällt, wenn Oltner über das grösste Entwicklungsgebiet ihrer Kleinstadt reden. Auf der Fläche zwischen Bahngleisen, Kantonsstrasse und Industriegebäuden sollten einmal rund 5000 Menschen leben. Vor der Jahrtausendwende klaffte hier eine Kiesgrube, danach zonte es die bürgerlich dominierte Stadtregierung zur Bauzone um. 2009 kaufte der Zürcher Baupionier Leopold Bachmann (1931–2021) das Gelände. Er galt als «Billigbauer der Nation» und war bekannt für seine schnell errichteten Blocksiedlungen. Die Stadt arbeitete zugleich einen Gestaltungsplan für das Gebiet aus, der Bachmann dazu ermächtigte, auch hier billig zu bauen. Vor sieben Jahren entstanden die ersten 420 Wohnungen, gebaut, wie man heute nicht mehr baut: viel Plastik, keine Balkone, Ölheizungen. Heute steht beinahe ein Drittel der Einheiten leer.

Direkter Blick auf das Quartier: Stadtpräsident Thomas Marbet auf dem Dach der Oltner Stadtverwaltung.
Foto: Philippe Rossier
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«Die Regierung war sich damals zu wenig bewusst, dass es ein Stadtteil ist»
Stadtpräsident Thomas Marbet
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Kaum eine Oltnerin, die keine Meinung hat

Fast alle in Olten haben eine Meinung zum Areal Südwest. Stadtpräsident Marbet weist Kritik von sich: «Ich frage mich immer wieder, ob wir all die Diskussionen auch hätten, wenn es statt eines Zürchers ein lokaler Investor wäre.» Er ist Sozialdemokrat und regiert seit 2021 im Stadtpräsidium. Zuvor war er acht Jahre lang als Stadtrat zuständig für die Direktion Bau. Als Bachmann das Areal Südwest aufkaufte, sass Marbet im Gemeindeparlament. War die Stadtregierung damals im Umgang mit dem Zürcher Investor zu naiv? «Sie waren sich bei der Planung wohl zu wenig bewusst, dass es sich hier nicht um eine einfache Bauzone, sondern um einen Stadtteil handelt», sagt Marbet. «Das Gebiet darf nun nicht einfach weiter mit uniformen Bauten überzogen werden.»

In einem der acht Wohnblöcke öffnet sich im fünften Stock eine Wohnungstür. Dahinter steht ein schlanker, gross gewachsener Pensionär und bittet herzlich zum Eintreten. Paul Edel (76) spricht gerne über das Quartier, in dem er wohnt. Lange stehen kann er nicht mehr, das linke Bein schmerzt. Er setzt sich an den kleinen Tisch in der Mitte der geräumigen Wohnung.

Paul Edel gefällt es in seiner Wohnung – er wartet aber seit sieben Jahren auf die Stadtverbindung.
Foto: Philippe Rossier
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«Ich überlege mir immer öfters, auf die andere Seite der Geleise zu ziehen.»
Paul Edel
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Edel gefällt es hier. Er wohnt bereits seit 2015 in Olten Südwest. Dennoch sieht auch er, dass beim Bau gespart wurde. Bei der Küche etwa, die mit ihrem überdimensionalen Dampfabzug und dem Ofen ohne Umluftfunktion älter scheint als siebenjährig. «Das wirkt schon etwas billig», sagt Edel. Noch schlimmer sei die Ölheizung: Sie gebe eine Raumtemperatur von mindestens 23 Grad vor. Ganzjährig. Er heuerte einen Heizungstechniker an, der das Problem aber nicht beheben konnte.

Olten Südwest aus der Vogelperspektive: Auf der anderen Seite der Bahnlinie liegt das Stadtzentrum.
Foto: Philippe Rossier

Trotz seiner körperlichen Beschwerden fährt Edel für den Einkauf mit dem Velo in die Stadt. Wenn es nach den Versprechen der Regierung ginge, könnte er dafür geradeaus durch die Unterführung des direkt nebenan gelegenen Regionalbahnhofs Hammer zur nächsten Migros-Filiale fahren. 350 Meter Luftlinie. Die Versprechen wurden bis heute nicht eingelöst. Trotz Plänen, die bereits seit über einem Jahrzehnt bereitlägen.

Um heute auf schnellstem Weg in die Stadt zu gelangen, müsste er stattdessen quer über die viel befahrene Kantonsstrasse, die den Verkehr um Olten herum lenkt und vor dem Areal vorbeizieht. Anschliessend folgt ein enger Tunnel unterhalb der Bahnlinie. Bereits diese Route wäre mehr als doppelt so weit, um in die Innenstadt zu gelangen. Edel ist sie aber zu riskant. Er fährt meist in die entgegengesetzte Richtung auf einen kleinen Radweg oberhalb der Brache, biegt dann rechts ab und radelt parallel zur Baulinie des Quartiers in die Stadt. So ist es über einen Kilometer, den er auf sich nimmt. Edel verliert langsam die Geduld: «Als ich 2015 einzog, dachte ich, die Unterführung würde bald stehen. Nun überlege ich mir immer öfters, zurück auf die andere Seite der Geleise zu ziehen.»

Die Rettung des Areals dauert lange ...

Dem Stadtpräsidenten kennt das Problem. «Natürlich wäre auch uns eine direkte Anbindung an die Innenstadt viel lieber», sagt Marbet. «Momentan müssen alle durch den Tunnel – vor allem für den Langsamverkehr hat es da kaum Platz.» Seit letztem Jahr dient eines der wenigen Gebäude der ehemaligen Zementfabrik, das noch auf dem Areal stehen geblieben ist, als provisorisches Schulhaus. Auch viele der Schulkinder müssen auf dem Weg dahin unter der Bahnlinie durch. «Hoffentlich passiert nichts», beschreibt Marbet seine Sorge. Dennoch hat sich an der Situation bis heute nichts geändert. «Wir arbeiten bereits seit sechs Jahren daran», erläutert Marbet. «Es ist ein langer Prozess.»

Solothurn: Kanton der Leerstände

Im Kanton Solothurn wird zu viel gebaut. Eine Konsequenz davon ist die hohe Leerstandsquote bei den Wohneinheiten. Sie ist bereits seit mehreren Jahren die höchste in der ganzen Deutschschweiz. Ein grosser Treiber sind die ländlichen Gebiete, die Investoren viel Baufläche bieten.

Olten ist die grösste Stadt des Kantons. Sie hat heute rund 19'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Als historischer Nullpunkt der Schweizerischen Bundesbahnen treffen im Oltner Bahnhof die grossen Fernverkehrslinien von Nord nach Süd und von Ost nach West zusammen. In die grossen Deutschschweizer Städte Basel, Bern und Zürich dauert die Zugfahrt eine halbe Stunde. Das Oltner Bahnhofbuffet war dadurch unter anderem Geburtsort des Freisinns, des Alpenclubs und des Generalstreiks. Trotz des Standortvorteils stagniert die Einwohnerzahl seit fünf Jahren. In der Stadt werden kaum mehr Mietwohnungen gebaut. Die Leerstandsquote ist dennoch auf einem Höchststand. Den grössten Teil der Schuld trägt dabei Olten Südwest.

Im Kanton Solothurn wird zu viel gebaut. Eine Konsequenz davon ist die hohe Leerstandsquote bei den Wohneinheiten. Sie ist bereits seit mehreren Jahren die höchste in der ganzen Deutschschweiz. Ein grosser Treiber sind die ländlichen Gebiete, die Investoren viel Baufläche bieten.

Olten ist die grösste Stadt des Kantons. Sie hat heute rund 19'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Als historischer Nullpunkt der Schweizerischen Bundesbahnen treffen im Oltner Bahnhof die grossen Fernverkehrslinien von Nord nach Süd und von Ost nach West zusammen. In die grossen Deutschschweizer Städte Basel, Bern und Zürich dauert die Zugfahrt eine halbe Stunde. Das Oltner Bahnhofbuffet war dadurch unter anderem Geburtsort des Freisinns, des Alpenclubs und des Generalstreiks. Trotz des Standortvorteils stagniert die Einwohnerzahl seit fünf Jahren. In der Stadt werden kaum mehr Mietwohnungen gebaut. Die Leerstandsquote ist dennoch auf einem Höchststand. Den grössten Teil der Schuld trägt dabei Olten Südwest.

Mittlerweile übt in diesem Prozess Leopold Bachmanns Sohn Sigmund die Rolle des Grundeigentümers aus. Er übernahm von seinem Vater, als dieser aufgrund einer Hirnblutung kürzertreten musste. Beim Telefongespräch zeigt er sich auch nicht zufrieden, wie das Quartier gebaut wurde. «Sonst wäre ich nicht mit der Stadt zusammen an einer Verbesserung», sagt Bachmann. Als Pilotprojekt montierte er vor zwei Jahren an eines der Gebäude Balkone. Neue Bewohner erhielt das Areal damit aber nicht: «Die Menschen zügelten einfach innerhalb des Quartiers.»

Einförmige Architektur mit wenig Grünfläche: Sogar Grundeigentümer Sigmund Bachmann ist nicht zufrieden mit dem Quartier.
Foto: Philippe Rossier

Die Anpassung des fehlgeleiteten Gestaltungsplans soll die Missstände auf dem Gebiet bei einem Weiterbau endlich beheben. Ölheizungen dürften keine mehr gebaut werden. Die neuen Gebäude sollen weniger einförmig wirken. Balkone sind vorgeschrieben. Auch öffentliche Einrichtungen könnten auf dem Areal einziehen – etwa ein Kindergarten. Und die Finanzierung der rund 20 Millionen Franken teuren Stadtanbindung wäre endlich gesichert. Ein Happy End für das verlorene Quartier?

... und wird nun zum Gerichtsfall

Keineswegs. Letztes Jahr zog ein Anwohner des Areals mit seiner Beschwerde vor das kantonale Verwaltungsgericht. Dieses gab ihm überraschend recht. Die neue Arealplanung liegt deshalb vorderhand auf Eis. Eine weitere Wendung in der Geschichte der Siedlung, die schon reich an absurden Episoden ist. Investor Bachmann ist frustriert über den Entscheid: «Es ist ein Fiasko, dass hier eine Einzelperson eine gute Sache bodigen kann.»

Die Rettung droht also zu scheitern – mit haarsträubenden Konsequenzen: Die Stadt könnte drei Millionen Franken an Bundesgeldern verlieren, muss mit Bachmann neu verhandeln und findet sich bei der Personenunterführung in einem Wettlauf gegen die Zeit. Denn ab 2026 bauen die SBB den Regionalbahnhof Hammer um. Kann die Unterführung dann nicht gleichzeitig umgesetzt werden, explodieren die Kosten. «Wenn du erst danach bauen willst, ist es gelaufen», sagt Marbet. Ob das Projekt danach bei einer Volksabstimmung durchkäme, bleibt fraglich. Der Bau könnte sich gar um Jahrzehnte verzögern. Die Stadt will nun den Entscheid vor Bundesgericht anfechten. Der Fall Olten Südwest schlägt fortlaufend neue Kapitel auf. Er bleibt für andere Kleinstädte ein Mahnmal dafür, nicht leichtfertig mit der eigenen Entwicklung umzugehen.

Gabriella Eng geniesst den grossen Freiraum, den das Areal bietet.
Foto: Philippe Rossier
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«Es wäre schade, wenn doch noch weitergebaut würde.»
Gabriella Eng
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Im Auge des Sturms geniessen die Mieterinnen und Mieter derweil ihre Ruhe. Für Paul Edel stellen die vielen leeren Wohnungen kein Problem dar: «Dadurch ist es sehr ruhig hier. Das gefällt mir.» Mieterin Gabriella Eng entriegelt beim Eingangsbereich ihres Wohnblocks gerade ihr Velo. Sie sieht den momentanen Zustand positiv. «Ich finde es toll, wie viel Platz es hier hat», sagt sie. Mit ihrem Hund spaziert sie täglich durch die Brache Südwest. «Es wäre schade, wenn doch noch weitergebaut würde.» Dann steigt sie auf ihr Velo und fährt die Quartierstrasse hinunter – durch den Tunnel in die Stadt.

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