Eidgenössisches Trachtenfest
So aufregend ist die Geschichte der Trachten

Die Trachten, wie wir sie kennen, sind eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Davor waren sie einmal ganz aus den Haushalten verschwunden. Historiker Michael van Orsouw hilft, die spannende Geschichte des Schweizer Kulturguts nachzuverfolgen.
Publiziert: 29.06.2024 um 01:17 Uhr
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Die heutigen Trachten sind gar nicht so traditionell, wie man meinen könnte. Hier Frauen aus dem Kanton St. Gallen an einer Landwirtschaftsausstellung im Jahr 1927.
Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Für einen Aufreger braucht es manchmal wenig. Das war Pipilotti Rist (62) sicher bewusst, als sie am 15. Juli 1998 vor die Medien trat. In der Werdenberger Werktagstracht mit weiss und hellblauem Rock und Puffärmelchen – so stellte sie als Direktorin der Expo 01 deren Projekte vor. Die Schweiz war verwirrt. Machte sie jetzt auf Vorzeigepatriotin? Oder im Gegenteil: Machte sie sich lustig über eine Schweizer Tradition? 

Ein Trachtenchorleiter aus dem Appenzellischen brachte die Stimmung in einem Blick-Leserbrief auf den Punkt: «Noch nie habe ich mich für Schweizer Trachtenleute so geschämt.» Rist hatte die Tracht nicht so getragen, wie es sich laut ihm ziemte. Er schrieb: Zu einer Tracht gehörten keine Schminke, keine ausgeflippten Modezeichen an Strümpfen, keine anderen Schuhe als Trachtenschuhe, kein Modeschmuck. «Auch der Abstand zwischen Boden und Rock muss stimmen!»

Man hätte meinen können, die Tracht sei etwas Urschweizerisches. Aus Tell-Zeiten überliefert. Unantastbar. Falsch!

Erste Blüte im 18. Jahrhundert

Michael van Orsouw (58) ist Historiker, Schriftsteller und hat sich für das Buch «Goldglanz und Schatten» mit der Innerschweiz der 1920er-Jahre befasst. Er sagt: «Die heutigen Trachten sind eine Erfindung aus jener Zeit.»

Schon ab dem 18. Jahrhundert gab es Trachten-Mode. Lange trugen das edle Tuch vor allem Damen aus der Oberschicht – wenn überhaupt. Die Mechanisierung, die Textilindustrie, all das verbesserte die Lebensbedingungen der Menschen. Nun konnten sich auch die Bauern eine Tracht leisten, mit eigenen Schnitten und Accessoires. Bis im 19. Jahrhundert die Industrialisierung richtig Fahrt aufnahm. 

Die industrielle Produktion schwemmte billige Kleider auf den Markt. Versandhäuser verschickten Prospekte bis in die hintersten Winkel der Schweiz. Die Handwebstühle wanderten auf den Estrich. Die Trachten-Muster gingen vergessen. Was das bedeutete, steht im Buch «Luzerner Trachten»: «Bis auf wenige Reste verschwanden die von Geschlecht zu Geschlecht vererbten Trachten.» 

Die wilden Zwanziger und die Trachtenbewegung

Das änderte ausgerechnet die Emanzipation der Frauen in den 1920er-Jahren. Sie befeuerte die erste Trachtenbewegung in der Schweiz. Historiker van Orsouw nennt sie: «Gegenbewegung zur Modernisierungswelle der Zwanzigerjahre».

Gemeint war die «Mode-Seuche», salopp auch «Müüli- und Nägeli-Süüch» genannt, die es von ausländischen Städten in die beschauliche Schweiz geschafft hatte. Die Frauen der 1920er wollten arbeiten, das Stimmrecht und sie lebten ihr neues Selbstvertrauen optisch aus. Sie malten ihre Nägel an, liessen sich die Haare kurz zum «Bubikopf» schneiden, trugen Lippenstift, Hosen oder kniekurze Röcke und transparente Strümpfe, durch die man viel Bein sah. Zu viel! – fanden die Konservativen. 

Diese setzten all dem die Tracht als Anti-Mode entgegen. Laut dem Historiker van Orsouw schauten sie, was sie von den alten Trachten noch fanden, schneiderten einiges um und dazu. Am 6. Juni 1926 wurde es dann richtig ernst: 300 Frauen und Männer aus der ganzen Schweiz kamen in Luzern in Trachten zusammen und gründeten die «Schweizer Trachten- und Volksliedervereinigung». Danach entstanden viele lokale Trachtengruppen.

Teil der geistigen Landesverteidigung

Aufwind bekamen sie alle in den 1930er-Jahren. Michael van Orsouw sagt: «Im Zuge der geistigen Landesverteidigung wurden die Trachten zu einem Bestandteil der Schweizer DNA umgedeutet.» Die Tracht wurde zum patriotischen Sinnbild. Die Landesausstellung von 1939, die «Landi», stand unter dem Motto: «Die Tracht ist das Kleid der Heimat.» Beim Trachtenfest, das dazugehörte, kamen in Zürich 250'000 Menschen zusammen.

Ernst Laur-Bösch (1896–1966), Präsident der Schweizer Trachtenvereinigung, war bei all dem eine treibende Kraft. In den 1930er-Jahren engagierte er Textildesigner, um die heute bekannten Schweizer Trachten entwerfen zu lassen. Historiker arbeiteten das auf der Online-Plattform «Geschichte der Gegenwart» heraus. Laur liess die «Trachtenzucht» überwachen, «falsches» Tragen unterband er. Falsch waren gefärbte Haare, Rauchen und Schminke, wenn man das Heimatkleid trug. Wie die Reaktionen nach Pipilotti Rists Auftritt im Jahr 1998 zeigen: Sein Geist wirkte lange nach.

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Eidg. Trachtenfest in Zürich:Das längste Alphorn passt nicht mal ins Bild
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