Frau Schnell, wir gehen mit grossen Schritten auf Weihnachten zu, was macht diese Zeit «besinnlich»?
Tatjana Schnell: In dieser Zeit ist es eher dunkel und kalt, die Menschen genauso wie die Tiere ziehen sich in ihre Wohnungen und Höhlen zurück. Das war schon so, als unsere Vorfahren noch auf dem Feld arbeiteten. Es ist eine Zeit, die uns nahelegt, uns mehr in das Innere zu bewegen. Auch symbolisch. Wir können das nutzen und unsere grundlegenden Annahmen über uns selbst und die Welt anschauen – so etwa wie ein Jahresrückblick der existenziellen Art.
Dieses Thema, Besinnung, begleitet uns das ganze Jahr über, die vielen Ratgeber und Blogs dazu zeigen: Die Menschen sind auf Sinnsuche. Stecken wir kollektiv in der Sinnkrise?
Es ist definitiv ein Thema. Die Zahl derjenigen, die heute eine Sinnkrise haben, liegt im Durchschnitt bei 14 Prozent. Das haben jetzt mehrere grosse Stichproben vor und während der Pandemie gezeigt. Wir sehen dabei deutlich an den Statistiken, die ich erhoben habe, dass es eine Veränderung gegeben hat.
Wann fing diese Suche an?
Als ich mit meiner Forschung anfing, zu Beginn des Jahrtausends, war Sinn kein grosses Thema. Fast zwei Drittel der Menschen, die wir befragten, sahen einen Sinn in ihrem Leben. Aber ohne sich viele Gedanken darüber zu machen. Circa ein Drittel sagte: Das ist mir eigentlich egal, so einen Sinn habe ich nicht, brauche ich aber auch nicht. Nur 4 Prozent waren Sinnsuchende.
Tatjana Schnell ist 1971 in Hessen (D) geboren und aufgewachsen. Sie studierte Psychologie, Theologie und Philosophie in Göttingen, London, Heidelberg und Cambridge. Heute ist sie Professorin an der norwegischen MF Specialized University Oslo und assoziierte Professorin an der Universität Innsbruck (A). Sie forscht zu Lebenssinn, Weltanschauung, Leiden und Sterblichkeit. Und verkriecht sich nicht in den Elfenbeinturm, macht ihre Studienergebnisse gut verständlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich: Mit ihrer Homepage www.sinnforschung.org sowie mit ihrem Buch «Psychologie des Lebenssinns», das 2020 erschienen ist. Schnell lebt derzeit in Innsbruck.
Tatjana Schnell ist 1971 in Hessen (D) geboren und aufgewachsen. Sie studierte Psychologie, Theologie und Philosophie in Göttingen, London, Heidelberg und Cambridge. Heute ist sie Professorin an der norwegischen MF Specialized University Oslo und assoziierte Professorin an der Universität Innsbruck (A). Sie forscht zu Lebenssinn, Weltanschauung, Leiden und Sterblichkeit. Und verkriecht sich nicht in den Elfenbeinturm, macht ihre Studienergebnisse gut verständlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich: Mit ihrer Homepage www.sinnforschung.org sowie mit ihrem Buch «Psychologie des Lebenssinns», das 2020 erschienen ist. Schnell lebt derzeit in Innsbruck.
Was ist seitdem passiert?
Die Finanzkrise 2008 stellt eine Zäsur dar. In all den Jahrzehnten zuvor schien die Richtung immer klar: mehr Wachstum, Fortschritt, Geld. Und plötzlich ist das alles wie eine Blase verpufft. Viele fingen an, sich Sinnfragen zu stellen. Heute wissen wir: Wenn der normale Fluss des Lebens unterbrochen wird, wenn von aussen etwas geschieht, das dafür sorgt, dass ich nicht einfach weitermachen kann wie bisher, dann können Sinnkrisen entstehen. Und die Anfälligkeit dafür hat bis heute nicht aufgehört, weil auch die grossen Krisen zunehmen.
Kämen wir besser damit zurecht, wenn wir wieder an eine höhere Macht glauben würden?
Unsere Studien zeigen, dass es möglich ist, das Leben auch ohne Religion sinnvoll zu leben. Wichtig ist, dass ich mich selbst kenne und verstehe, aber auch fähig bin, von der Fokussierung auf mich abzusehen. Und dass ich versuche, das umzusetzen, was mir wichtig ist, einzutauchen, einen Beitrag zu leisten. Das sind die stärksten Sinnstifter.
Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ich mein Leben als sinnvoll wahrnehme?
Wir haben vier Sinn-Merkmale herausfiltern können. Menschen, die Sinn empfinden, kennen die Richtung, die sie im Leben einschlagen möchten. Sie haben eine Orientierung. Das Zweite ist Kohärenz: Stimmigkeit. Das ist nicht einfach, wir haben einen Beruf, sind Eltern, sollten uns idealerweise gesund halten, sind Bürgerin und haben noch viele Interessen. Das sind viele unterschiedliche Rollen, wodurch es zu Widersprüchen kommen kann oder zum Gefühl, mich verbiegen zu müssen.
Was braucht es noch?
Ich möchte die Erfahrung machen, dass mein Leben eine Bedeutung hat. Das, was ich tue, stösst auf Resonanz. Andere nehmen mich wahr, reagieren auf mich – ich bin nicht egal. Wir nennen das Bedeutsamkeit. Und das Vierte ist die Zugehörigkeit.
Freundschaften und Familie.
Ich meine das im existenziellen Sinn. Eine Person hat das Gefühl, sie hat einen Platz auf dieser Welt. Das kann sein durch ein Andocken an eine Philosophie, an eine Religion, in der Familie, beim Sport, an der Schule. Ich weiss: Irgendwo gehöre ich hin.
Wenn man nun alle Generationen anschaut, wer hat mit all dem am meisten Mühe?
Die Jüngeren. Über ein Viertel der 18- bis 29-Jährigen in deutschsprachigen Ländern berichten, dass sie ihr Leben als sinnlos und leer empfinden. Der Blick, den junge Leute heute auf die Welt haben, ist stark von einer Sinnkrise getrübt.
Warum?
Sie kennen noch die Grundannahme der letzten Jahrzehnte: Alles entwickelt sich in Richtung schneller, besser, höher und mehr. Gleichzeitig begegnen sie einer anderen Wirklichkeit: Wir können nicht einfach gedankenlos konsumieren, die Natur ausbeuten, uns ausbreiten und reisen ohne Ende. Sie stecken quasi in zwei Welten. Es ist schwer für sie, herauszufinden, in welche Richtung sie gehen wollen.
Bei der Klimajugend zum Beispiel ist vom Elan der letzten Jahre nur noch wenig zu spüren. Warum resignieren sie?
Das, was sie tun, scheint keine Konsequenzen zu haben. Die Politik reagiert zu langsam. Unsere Gesellschaft ist komplex und globalisiert. Wenn wir dann versuchen, als Einzelne etwas beizutragen, weniger Fleisch zu essen, umweltfreundlicher zu reisen, ändert das nicht direkt etwas, ringsherum verhalten sich Millionen von Menschen anders. Sie kommen zum Schluss: Eigentlich ist es doch egal, was ich tue. Die Egal-Erfahrung ist der schlimmste Sinn-Killer.
Dazu passt das Phänomen «Climate Quitting», bei dem immer mehr Menschen kündigen oder einen Job nicht annehmen, wenn sich die Firma zu wenig ökologisch und sozial engagiert.
Das deckt sich mit unserer Forschung. Und verschärft sich, weil die meisten Unternehmen sich diese Werte auf die Fahne schreiben.
Wo liegt das Problem?
Wenn das ganz gross auf der Website und in den Leitlinien des Unternehmens steht und als Angestellte merke ich: Das wird aber gar nicht gelebt. Wären diese Werte gar nicht so gross gemacht worden, aber authentisch gelebt, wäre es weniger schlimm. Durch diesen Widerspruch kommt es bei den Angestellten zu Zynismus und innerer Kündigung.
Unternehmen laden heute ganz selbstverständlich ihre Produkte mit Purpose – auf Deutsch: Bestimmung – auf. Kann die Wirtschaft Sinn herbeifaken?
Das geht eben nicht. Das ist so anders bei Sinn als bei manchen anderen Dingen. Unternehmen müssen glaubwürdig zeigen, dass sie eine echte, authentische Orientierung haben, dass ihre Entscheidungen damit übereinstimmen, dass sie Zugehörigkeit für ihre Mitarbeitenden schaffen. Also im Sinn von: Sie sehen wirklich den Menschen. Diese sind nicht nur ein Rädchen im Getriebe.
Kann auch jemand in einem Büro oder in einer Lagerhalle die eigene Arbeit als sinnvoll empfinden?
Seit das Sinn-Thema so stark in den Medien behandelt wird, denken viele Menschen: Eigentlich habe ich einen blöden Job, weil ich mit diesem nicht die Welt rette. Das ist eine gefährliche Annahme.
Um was geht es dann?
Wichtig ist, dass das, was wir tun, eine Bedeutung hat und gebraucht wird. Ein Produkt, das gut ist, das Qualität hat, oder eine Dienstleistung, die wirklich notwendig ist. Und nichts, wofür ich durch Werbung erst ein Bedürfnis schaffen muss, das aber eigentlich gar keines ist. Wenn man das Gefühl hat: Ich kann gutes Brot backen, ich mache dieses Büro richtig schön sauber, ich schreibe einen guten Text, dann entsteht Sinn.
In der Gesellschaft gibt es den Druck, aus allem, was einem passiert, Sinn ableiten zu müssen: Auch an der Krebsdiagnose muss man noch wachsen. Wie beurteilen Sie das?
Das ist gefährlich. Es vermittelt den Eindruck, es sei etwas falsch mit einem, wenn man einem Schicksalsschlag nichts Positives abgewinnen kann. Wie soll ich den Tod meines Kindes zu etwas Positivem drehen? Oder eine Krankheit, die dazu führt, dass ich nur noch kurz lebe? Das ist schlimm – das darf ich auch so erleben! Wir sehen in der Forschung, dass es Menschen nicht gut geht, wenn sie immer gleich einen Sinn in etwas sehen wollen.
Warum versuchen westliche Gesellschaften konstant, Leiden und Unglück zu verhindern, warum kommen wir so schlecht damit klar?
Ich glaube, verantwortlich ist ein Glaubenssatz: Du sollst nicht leiden. Dieser ist mit der Moderne entstanden. Als Geräte, Maschinen, Computer, uns die schwere körperliche Arbeit abgenommen haben. Körperliche Schmerzen schalten wir durch Medikamente aus. Seelische Schmerzen unterdrücken wir durch Antidepressiva, Beruhigungsmittel, Alkohol und Drogen. Wir minimieren Risiken und Gefahren. Das hat das Leben erstmal leichter und bequemer gemacht.
Welchen Preis hat das?
Wenn das Leben immer leicht, angenehm, schön und lustig sein muss und wir glücklich, dann entgeht uns ganz viel an Tiefe. Leid bedeutet zum Beispiel ja auch ganz im Kleinen: Ich fühle mich schlecht, wenn ich realisiere, dass ich jemanden verletzt habe. Ich habe vergessen, etwas zu erledigen, und einen Menschen enttäuscht. Wenn ich all diese negativen Gefühle gar nicht an mich heranlasse, sehe ich mich selbst nicht ganz. Ich verpasse die Chance, mich weiterzuentwickeln. Und wahrzunehmen, wenn andere meine Hilfe benötigen.
Was raten Sie zum Schluss?
Zum Leben gehört die Freude ebenso wie das Leiden. Wir sind sterblich, können krank werden, Fehler machen. Eine existenzielle Sichtweise akzeptiert diese Widersprüche: Dieses Leben ist trotzdem – oder gerade deswegen – lebenswert. Und wenn ich dazu noch weiss, wohin ich gehen möchte, wo ich dazugehöre, und wenn ich erfahre, dass mein Handeln nicht egal ist, dann kann ich mit solchen Krisen ganz anders umgehen. Besser wahrscheinlich.
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