Diese Woche konnte die Schweizer Skirennfahrerin Michelle Gisin ihren 30. Geburtstag feiern. Im Interview gleichentags für den Blick antwortete sie auf die Frage, was sie ihrem Freund – dem italienischen Riesenslalomspezialisten Luca De Aliprandini (33) – schon immer via Zeitung sagen wollte: «Du bist ein Tüpflischiisser!» Ein Lacher folgt.
Gleichzeitig ist der Schweizer Skirennfahrer Marco Odermatt (26) in einem Werbespot für eine Telekommunikationsfirma mit folgenden Worten zu hören: «Grossi Treim bruched es bitzli Support. Es brucht gueti Serviceleit, Vorbilder und en Fanklub. Aber es brucht au Geheimrezäpt und Tüpflischeisser, um die entscheidende Hundertstel iusezfahre.»
Dieses Jahr schon mehr als doppelt so häufig wie 2022
Tüpflischeisser (Nidwalden), Dipflischisser (Basel), Tüpflischiiser (Bern und andere) – das Dialektwort für einen kleinlichen, pedantischen Menschen, der es sehr genau nimmt, feiert Urständ. Und dabei kommt das Hauptwort nicht nur salopp oder spöttisch zur Anwendung, sondern auch im positiven Sinn.
«Ein virtuoser ‹Tüpflischisser›», lautet der Titel eines Artikels in der Berner Tageszeitung «Der Bund» vom letzten Frühjahr – nur eines von 39 Beispielen aus der Schweizer Mediendatenbank (SMD) für 2023. Fürs Jahr zuvor sind bloss 18 Belege zu finden. Und über die letzten vier Jahre durchschnittlich nur 22.
«Ich stelle fest, dass ‹Tüpflischiisser› heute wieder recht oft zu Ehren kommt», sagt der Schweizer Dialektologe Christian Schmid (76). Das hänge möglicherweise damit zusammen, dass die Schweizer Kabarettistin Hazel Brugger (30) eine Comedynummer «Tüpflischisser» nannte, die Mundart-Radiosendung «Schnabelweid» den Tüpflischisser thematisierte oder es den Scherzartikel Anti-Tüpflischisser-Pille gebe.
Das Wort ist jedenfalls jüngst wieder in aller Munde. Aber warum hören wir es aktuell von Skirennfahrerinnen und -fahrern? «Beim modernen Sport geht es ja um das Tüpflischisse», sagt Schmid, «um Hundertstelsekunden.» Ansonsten erachtet er es eher als Zufall, dass sowohl Gisin als auch Odermatt den Begriff verwenden.
Das Tüpfli auf dem i belegt den positiven Kern des Worts
Sport und Wort haben aber etwas gemeinsam: die Bewegung. Das belegt Schmid in seinem neuesten Buch «Chäferfüdletroche» (Cosmos-Verlag) mit «Redensarten- und Wortgeschichten»: In einem Kapitel schreibt er, dass «ein pedantischer Vorlagen- oder Formular-Reiter wie ein Tüpflischiisser im österreichischen Deutsch ein i-Tüpferl-Reiter» sei.
Das i-Tüpfli, das Tüpfli auf dem i: Diese Herleitung zeigt den positiven Kern des Worts. Wenn es allerdings – pardon – geschissen daherkommt, ist es untere Schublade. Der sprachliche Durchfall macht aus manchem Begriff etwas Negatives, macht ihn gar zu einem Schimpfwort.
Das massgebliche Mundartlexikon «Schweizer Idiotikon» nennt auf mehreren Spalten «Schisser» – vom «Beiabschisser» (herabsetzende Entstellung für Bajass) bis zum «Zweckschisser» (einer, der mit seiner Verrichtung gleich noch das Ziel verfolgt, den Boden zu düngen).
Die Bedeutungsbandbreite reicht vom ängstlichen Menschen («Hoseschisser») bis eben zum Pedant («Tüpflischisser») – wobei der Begriff «Gütterlischisser» (ein Mixturenmacher) eine Scharnierstellung einnimmt und sowohl «Feigling» als auch «Kleinigkeitskrämer, Pedant» bedeuten kann.
Auf den Korinthenkacker folgt logisch der Rosinenpicker
Die hochdeutsche Entsprechung des schweizerischen Tüpflischissers ist der Korinthenkacker. Die Wortverlaufskurve im «Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache» (DWDS) weist eine Verwendung des Begriffs erst in der Nachkriegszeit nach. Schmid vermutet denn auch, dass Korinthenkacker aus der Soldatensprache des Zweiten Weltkriegs stammt.
Das Wort Korinthen kommt von Korinthiaki, einer Rotwein- und Tafeltraubensorte aus dem alten Griechenland, die heute Winzerinnen und Winzer weltweit anbauen. Ein Korinthenkacker ist also einer, der Rosinen ausscheidet. Und damit wären wir wieder in der Schweiz, denn Rosinenpickerei ist neben Tüpflischeisserei eine zweite Eigenschaft, die man uns immer wieder nachsagt.
«Je freier eine Gesellschaft ist, desto weniger Tüpflischiisser im negativen Sinn von Pedant und Beckmesser gibt es», sagt Schmid. «Aber der oder die Genaue, die aufs Tüpfli genau sein will, wird es weiterhin geben.» Odermatt sei mit seinem «Tüpflischeisser» weniger ein Beförderer dieses Wandels zum Positiven als vielmehr ein Zeichen dafür.
Und welchen Einfluss hat seine Mundart im Werbespot? «Tüpflischeisser ist im Nidwaldner Dialekt die normale Lautform, weil das lange ii in diesem Dialekt oft zu einem ei wird», sagt Dialektforscher und «Schnabelweid»-Gründer Schmid. «Weil das Marco Odermatt so ausspricht, kann das natürlich Kultpotenzial haben.»