Kennen Sie die wunderbare Kindergeschichte «Ein Tisch ist ein Tisch» von Peter Bichsel? Eines schönen Tages beschliesst darin ein alter Mann, sein Bett Bild, seinen Tisch Teppich und seinen Stuhl Wecker zu nennen. Die Konsequenz: Er versteht die Leute nicht mehr; und noch schlimmer: Die Leute verstehen ihn nicht mehr. Auch wenn ein Baum kein Baum ist und wir ihn nur so nennen, ist das Entscheidende, dass beim Wort alle im deutschen Sprachraum eine ähnliche Vorstellung haben.
«Wir symbolisieren die Welt», schreibt der Schweizer Sprachwissenschaftler Christian Schmid (76) in seinem neuen Buch. Und der Mundartforscher, bekannt aus der SRF-Radiosendung «Schnabelweid», findet ein schönes Bild: Alles, was wir wahrnehmen, schicken wir in eine geistige Umkleidekabine, in der wir das Wahrgenommene kostümieren. Schmids Interesse ist – um beim Bild zu bleiben –, das Alter des Kleids zu bestimmen und die nackte Wahrheit darunter zu präsentieren.
Was steckt hinter dem Adjektiv «chäferfüdletroche»? Woher kommt das Substantiv «Schwerenöter»? Und weshalb sagt man: «Wer zuerst kommt, mahlt zuerst»? Schmid präsentiert 60 «Redensarten- und Wortgeschichten», alphabetisch geordnet wie in einem Lexikon. Aber die Texte sind nicht «chäferfüdletroche» wie in einem Wörterbuch, sondern spannend geschrieben, weil sich Schmid nicht mit der erstbesten Erklärung zufriedengibt, zweifelt, grübelt und der Sache auf den Grund gehen will.
Selber ein wandelndes Lexikon nutzt Schmid sowohl historische Wörterbücher als auch das Internet. «Noch nie liess sich ein derart umfangreiches Textkorpus durchforsten», schreibt der studierte Germanist und Anglist. «Man muss sich nur Zeit nehmen und mit unterschiedlichen Schreibungen und Wortformen spielen, immer und immer wieder.» Eine spielerische, aber auch aufwendige Arbeit. Am ergiebigsten ist sie dort, wo sich hinter einem scheinbar eindeutigen Wort ein anderer Sinn zeigt.
Beim «Amtsschimmel» zum Beispiel: Zwar wiehert es in manchen Erklärungen, doch Schmid überzeugt die «hartnäckig haltende Geschichte mit dem Pferd» nicht. Auch mit Ämtern, in denen auf stapelnden Akten Schimmelpilz wachse, habe das Wort nichts zu tun. Vielmehr sei der Schimmel vom lateinischen «similis» für «ähnlich, gleich» entlehnt. Amtsschimmel ist demnach die immer gleich ablaufende, übertrieben genaue Handhabung der Dienstvorschriften durch Beamte.
Oder «hanebüchen»: Hat der Begriff etwas mit Hahn und Buch zu tun? Mitnichten, denn das Eigenschaftswort leitet sich von der Hagebuche ab, deren Holz hart, zäh und dauerhaft ist. Diese an sich positive Eigenschaft schrieb Jeremias Gotthelf Menschen zu, «welche so recht zäh und kampfbereit über ihren Bürgerrechten wachen». «Überträgt man die Eigenschaft hanebüchen im Sinn von ‹grob, gefühllos› auf Sachen oder Sachverhalte, werden sie im heutigen Verständnis ‹empörend›», so Schmid. Die Wahrheit eines Worts wandelt sich.
«Chäferfüdletroche – Redensarten- und Wortgeschichten», Cosmos
«Chäferfüdletroche – Redensarten- und Wortgeschichten», Cosmos