Sie und ich, die Lesenden und der Schreibende, stehen uns im 21. Jahrhundert anders gegenüber als noch im vergangenen: Wir sind heute auf Augenhöhe, während Sie mich früher gar nicht sahen. Sie können mir jetzt im Online-Kommentarfeld Ihre Meinung direkt ins Gesicht sagen, während Sie damals noch mühsam einen Leserbrief schreiben mussten. Seit über dreissig Jahren arbeite ich für verschiedene Medienhäuser, die in den 1990ern noch Dirigenten waren. Heute sind sie Bassstimmen in einem grossen Chor.
«Die Popularität sozialer Medien fordert die traditionellen heraus – und damit den Journalismus», schreibt Sascha Lobo (48) in seinem eben erschienenen Buch. Der deutsche Digitalisierungsexperte und «Spiegel»-Online-Kolumnist schreibt nach dem Bestseller «Realitätsschock» (2019) nun über die grosse Vertrauenskrise in der Gesellschaft. Nach einer fundierten Analyse liefert er am Schluss einen Leitfaden, wie wir zusammen und persönlich zur Bewältigung dieser Krise beitragen können.
«Eine Reihe von nationalen und internationalen Krisenmomenten muss als Hintergrund der grossen Vertrauenskrise begriffen werden», schreibt Lobo. Und er listet Ereignisse des 21. Jahrhunderts auf, angefangen mit den Anschlägen vom 11. September 2001 über die Finanzkrise 2008 zur Corona-Krise 2020 bis hin zum russischen Ukraine-Überfall 2022. Einher ging das mit der rasenden Digitalisierung und der Lancierung des iPhones 2007, das die mediale Vermittlung vollkommen revolutionierte.
neue Sachbücher
Morgens eine Viertelstunde Lektüre der abonnierten Tageszeitung, auf dem Weg ins Büro ein paar Minuten Radionachrichten, abends die «Tagesschau» im TV: So skizziert Lobo den Medienkonsum von 1993 und kontrastiert diesen «mit dem aggressiven Nachrichtenhagel, der im Jahr 2023 auf Sie unablässig niederprasselt». Wo man praktisch kein soziales Netzwerk benutzen könne, ohne im sogenannten «Newsfeed» auf ein paar private und viele politische Nachrichten zu stossen.
«Das Alte Vertrauen baut auf Institutionen, Hierarchien und Gewohnheiten auf, den gesellschaftlichen Stützpfeilern des 20. Jahrhunderts gewissermassen», schreibt Lobo. Das «Alte Vertrauen» gehe von Eindeutigkeit, Berechenbarkeit und Stabilität aus. «Das Neue Vertrauen dagegen ist fluider, sozialer, prozessualer», schreibt Lobo weiter. «Es baut auf schneller Kommunikation auf, auf der Zusammenarbeit vernetzter Gruppen und auf dem Gefühl der Aktualität.»
Neues Vertrauen sei wie Altes Vertrauen etwas, das Zeit und Mühe im Aufbau erfordere, das enttäuscht werde und kaputtgehen könne. Aber es halte den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts deutlich besser stand als das auf alte Art produzierte Vertrauen. «Zum Glück», so Lobo, «denn ohne ein basales Vertrauen in die Gesellschaft und das politische System wird das Leben zur Qual.» Schliesslich ist Vertrauen gemäss dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) ein «Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität».
«Die grosse Vertrauenskrise – ein Bewältigungskompass», Kiepenheuer & Witsch
«Die grosse Vertrauenskrise – ein Bewältigungskompass», Kiepenheuer & Witsch