Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Rührend weinen wie Roger Federer

Als eine «Mischung aus Schmerz und Glücksempfinden» beschreibt Roger Fayet die Rührung – eine Gefühlslage, in der wir uns mehr denn je befinden und der wir uns nicht zu schämen brauchen.
Publiziert: 19.09.2023 um 09:10 Uhr
Rührend: Roger Federer (l.) und Rafael Nadal heulten vor einem Jahr am 23. September 2022 in London bei Federers Abschied wie kleine Buben.
Foto: IMAGO/Shutterstock
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Wann waren Sie letztmals gerührt? Als Sie die ersten Worte Ihres Kindes hörten? Angesichts der lange nicht mehr gesehenen, alten Mutter? Während der Umarmung eines Freundes? Oder beim Verkosten eines edlen Tropfens? Letztlich kann jede Sinnes-Erfahrung zu einer inneren Ergriffenheit führen, die einen urplötzlich zu Tränen rührt. Leicht verschämt putzt man sie weg, denn es gilt Haltung zu bewahren – die Rührung hat einen schweren Stand in unserem durchstrukturierten Alltag.

«Ein wenig angesehenes Gefühl» nennt Roger Fayet (57) die Rührung im Untertitel seines eben erschienenen Buchs. Der Zürcher Kunsthistoriker und Direktor des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft (SIK) macht darin «Erkundungen» (Fayet), die über sein Fachgebiet hinausreichen und bei Dichtung, Musik oder Philosophie landen. Mutige Schritte auf Neuland, bei denen man den forschen und forschenden Fayet gerne begleitet. Denn der Boden ist theoretisch gut fundiert und praktisch ertragreich. 

Spätestens seit letztem Jahr hat Rührung Hochkonjunktur: Tausende sahen gerührt, wie ukrainische Soldaten nach der Rückkehr von der Front ihre Familien in die Arme schliessen konnten, Hunderttausende sassen mit feuchten Augen vor den Fernsehern und schauten den Abschiedsmatch des Schweizer Tennisstars Roger Federer (42), und Millionen verfolgten ergriffen die Beerdigung der britischen Queen (1926–2022). Fayet schreibt in seinem Buch denn auch von einer «neuen Empfindsamkeit».

Wie jedes Grundgefühl erfährt die Rührung ein Auf und Ab. Im späten 20. Jahrhundert war das Kinopublikum ungerührt angesichts von Morden, lachte gar, als etwa im Tarantino-Film «Pulp Fiction» (1994) Vincent Vega (John Travolta) Marvin (Phil LaMarr) aus Versehen in den Kopf schoss und sich das Autointerieur wie nach einer Tomatenschlacht rot färbte. «Mehr noch (…) als andere Emotionen steht das Gefühl der Rührung im Widerspruch zum ironisch-abgeklärten Weltverhältnis der Postmoderne», schreibt Fayet über jene Zeit.

Rührung steht immer wieder im Kitschverdacht. Doch der SIK-Direktor zeigt anhand vieler einleuchtender Beispiele auf, dass gerade grosse Kunst rührend sein kann oder Rührung darstellt – und das nicht erst seit kurzem. «Tränen der Rührung erscheinen (…) schon in der ‹Odyssee›», schreibt Fayet über sein ältestes Beispiel aus der griechischen Antike, wo sich Odysseus und Penelope nach Jahren wiedersehen. Gleich mehrere Stellen berichten davon, wie der Held und sodann seine Gemahlin von Tränen der Rührung übermannt werden.

«Im Rückblick auf die Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung mit Rührung kann nicht verborgen bleiben», so Fayet weiter, «dass eine besonders intensive Beschäftigung mit diesem Gefühl, seinen Voraussetzungen und möglichen Wirkungen gerade in jenen Epochen stattfindet, die sich in bis dahin ungekannter Weise der Erreichung emanzipatorischer Ziele durch den Gebrauch der Vernunft verschrieben haben.» Das Hirn scheint also Wegbereiter für das Herz zu sein.

zVg
Roger Fayet

«Ästhetik der Rührung – Erkundungen auf dem Gebiet eines wenig angesehenen Gefühls», Schwabe.

zVg

«Ästhetik der Rührung – Erkundungen auf dem Gebiet eines wenig angesehenen Gefühls», Schwabe.

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