Genau vor 40 Jahren erschien der Sachbuchbestseller «Anleitung zum Unglücklichsein» (1983) des österreichischen Psychologen Paul Watzlawick (1921–2007). Mein Lieblingstext daraus ist «Die Geschichte mit dem Hammer»: Ein Mann will ein Bild aufhängen, hat einen Nagel, aber keinen Hammer; also den Nachbarn fragen – aber gestern hat er nur flüchtig gegrüsst: Vermutlich will der das Werkzeug nicht ausleihen. Und so läutet der Mann beim Nachbarn und sagt ihm nur: «Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!»
Die aktuell angesagteste französische Philosophin Cynthia Fleury (49) scheint in ihrem kürzlich erschienenen Buch darauf Bezug zu nehmen, wenn sie darin über ein Subjekt schreibt: «Es handelt im Einklang mit der Berücksichtigung des Unglücks der Welt und hört auf zu glauben, dass es handelt, indem es sich damit begnügt, sein eigenes Unglück zu empfinden.» Im Text geht es um Verbitterung und daraus entstehende Ressentiments – ein Gefühl, das in Zeiten von Social Media Urständ feiert.
«Die (…) grosse Bewegung, die die Gesellschaft derzeit strukturiert, ist tatsächlich ressentimentgesteuert», schreibt die Professorin für Philosophie am Hospital Sainte-Anne in Paris – die Individuen sässen in der Falle und wechselten zwischen Aggressivität und Herabwürdigung. «Das Ressentiment ist eine Verfolgungskrankheit», so Fleury, die auch Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Pariser Conservatoire National des Arts et Métiers ist – man fühle sich bei dieser Krankheit als Opfer und lehne die Verantwortung für sich selber ab.
«Hier liegt Bitterkeit begraben», heisst im französischen Original «Ci-gît l’amer» – und die Philosophin spielt poetisch mit der klanglichen Mehrdeutigkeit: «l’amer» (das Bittere), «la mer» (das Meer) und «la mère» (die Mutter). Damit deutet Fleury an, dass der Mensch häufig schon als Kind Verbitterung erlebt, in der er wie im Ozean zu ertrinken droht. «Ständige Wellen fluten die sozialen Netzwerke, um ganz gezielt diesen oder jenen zu belästigen, manchmal monatelang», so Fleury weiter. «Ressentiment ist ein erster Weg zum Terror.»
Das wiederholte Durch- und Nachleben bezeichnet sie als einen Schlüsselbegriff des Ressentiments, «etwas, das durchgekaut und wiedergekäut wird, übrigens mit der charakteristischen Bitterkeit einer vom Kauen ausgelutschten Speise». Hier werde die Wahl des Aases bevorzugt, aber so Fleury weiter: «Man kann und muss sich anders ernähren, verdorbene Nahrung ablehnen.» Und sie präsentiert einen anderen Menüplan.
Als Chefkoch zitiert sie ihren Fachkollegen und Landsmann Michel de Montaigne (1533–1592): Wer Kränkungen einfach nicht beachte, tue etwas sehr Schönes, schrieb er in seinem Essay «Über die Grausamkeit»: «Wer (…) sich mit Waffen der bessren Einsicht gegen den wilden Ansturm seiner Rachgier zur Wehr setzt und ihrer nach heftigstem Kampf schliesslich Herr wird, vollbringt zweifellos weit mehr.»
«Hier liegt Bitterkeit begraben – über Ressentiments und ihre Heilung», Suhrkamp.
«Hier liegt Bitterkeit begraben – über Ressentiments und ihre Heilung», Suhrkamp.