Das ist eines dieser denkwürdigen Daten, von denen jede damals mindestens zehnjährige Person weiss, wo sie war: der 9. November 1989, als die Berliner Mauer zwischen der DDR und der BRD fällt. Ungläubig sitzen Millionen vor den TV-Geräten und sehen, wie Menschen aus dem Osten ungehindert in den freien Westen strömen. «Looking for Freedom» von Sänger David Hasselhoff (70) ist die Hymne der Wiedervereinigung, die der US-Sänger in der Silvesternacht zum neuen Jahrzehnt live am Brandenburger Tor von Berlin zum Besten gibt.
«Wahnsinn! Freiheit! Wahnsinn», schreibt Jens Balzer (54) in «No Limit». «Der Jubel kennt keine Grenzen, als der Mann mit der Dauerwellenfrisur sich im Arbeitskorb eines Krans über die Mauer heben lässt.» Für Balzer ist der Hasselhoff-Auftritt das Fanal für die beginnenden Neunzigerjahre, «das Jahrzehnt der Freiheit», wie sein neues Buch im Untertitel heisst. «No Limit» bildet mit «Das entfesselte Jahrzehnt» (2019) über die 1970er- und «High Energy» (2021) über die 1980er-Jahre eine Trilogie – Standardwerke zur Kulturgeschichte.
Gewohnt gewandt und gewinnbringend schreibt der deutsche Popkultur-Kenner über Ereignisse und Errungenschaften, die Menschen zwischen 1990 und 1999 umtrieben: Die ersten Handys machen örtlich ungebunden, das aufkommende Internet sorgt für grenzenlosen Informationsaustausch, und im neuen Privatfernsehen geben sich Frauen freizügig (RTL-Sendung «Tutti Frutti»). Viele lassen sich eine neumodische Tätowierung stechen (oft ein Arschgeweih) und tragen die an der seit 1993 stattfindenden Street Parade zur Schau.
«Die Lust am Exhibitionismus und daran, sich selbst zu einer unverwechselbaren Marke zu machen», darin sieht Balzer ein Merkmal des letzten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert. Wenn die 1970er-Jahre im Zeichen der Innovation stehen und die 1980er aus Angst vor der drohenden Apokalypse einen Rückgriff auf die Vergangenheit machen, «so scheinen die Neunziger den Unterschied zwischen Innovation und Nostalgie aufheben zu wollen», schreibt Balzer. Was nunmehr avantgardistisch wirke, sei der innovativste Griff ins Archiv.
Ja, rückblickend wirken die 1990er-Jahre als eine der freisten Dekaden seit dem Zweiten Weltkrieg – Pandemie und Putin sind noch in weiter Ferne. Balzers zeigt aber auf, wie Putin im ostdeutschen Dresden schon zuvor eine Neonaziszene stärkte, die in den Neunzigern aufkeimte, wie der Jugoslawienkrieg das ganze Jahrzehnt überschattete und wie das Todesurteil des iranischen Ayatollah Khomeini (1902–1989) gegen den Schriftsteller Salman Rushdie (76) den islamistischen Terror auf der Welt beflügelte.
«Die Neunzigerjahre enden am 11. September 2001», schreibt Balzer, jenem Dienstag, an dem islamistische Terroristen zwei Passagierflugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers (WTC) in New York steuern. Das «Anything goes» der Postmoderne, das im WTC-Gebäude des US-Architekten Minoru Yamasaki (1912–1986) zum utopischen Ausdruck einer grenzenlosen Welt überhöht worden sei, finde in den Anschlägen seinerseits eine Grenze.
«No Limit. Die Neunziger, das Jahrzehnt der Freiheit», Rowohlt Berlin.
«No Limit. Die Neunziger, das Jahrzehnt der Freiheit», Rowohlt Berlin.