Kein halbes Jahr ist es her, da kam an dieser Stelle ein Buch über Moral zur Sprache. Ich beschrieb damals, wie früher die Rechten schlaflos waren: «Vigilance» (französisch für Wachsamkeit) habe eine populistische und fremdenfeindliche Partei in Genf geheissen, die 1985 zur zweitstärksten politischen Kraft im Kanton herangewachsen sei. Heute nenne man die Linken «woke» (engl. für erwacht), die nach sozialer Ungerechtigkeit und Rassismus in unserer Gesellschaft Ausschau halten.
«Links ≠ woke» heisst das neue Buch der gebürtigen US-Amerikanerin Susan Neiman (68, «Von den Deutschen lernen»), das dieser Tage für grosses Aufsehen sorgt. Ausgerechnet die bekennende Sozialistin, die seit 2000 Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam (D) ist, will den Linken absprechen, aufgeweckt zu sein. Oder anders gesagt: Wer woke ist, der ist für Neiman nicht links. Eine gewagte These, die im Feuilleton für auffällig viele Artikel mit Fragezeichen in den Titeln sorgt – Ungläubigkeit reihum.
Dabei ist die preisgekrönte Philosophin und frühere Yale-Professorin eindeutig und einleuchtend in ihren Aussagen. «Woke bezeichnet keine eigentliche Bewegung», schreibt Neiman. Der Ausdruck «stay woke» (bleib wachsam) weist sie erstmals im Lied «Scottsboro Boys» (1938) des US-Bluessängers Leadbelly (1888–1949) nach. Darin geht es um neun schwarze Teenager, die wegen einer nie begangenen Vergewaltigung zum Tode verurteilt sind und durch jahrelange internationale Proteste am Leben bleiben.
«Wach bleiben für Ungerechtigkeit, wachsam für Anzeichen von Diskriminierung, was sollte daran falsch sein?», fragt Neiman. «Doch innerhalb weniger Jahre wandelte sich der Begriff woke vom Lobes- zum Schmähwort.» Und jetzt schreibt sie das Wort selber nieder. Warum? Weil für sie woke ein rechter Begriff ist, der im nationalistischen Stammesdenken wurzelt und dem Universalismus, der aus der sozialistischen Internationalen kommt, letztlich widerspricht.
«Dass sich die Linke dem Stammesdenken zugewandt hat, ist besonders tragisch, weil sich die Bürgerrechtsbewegung und der Antikolonialismus in ihren Anfängen entschieden gegen jegliches Stammesdenken gestellt haben», so Neiman. Ein Vergehen gegen Schwarze, Asiaten oder Frauen sei in erster Linie ein Verbrechen gegen die universalen Menschenrechte und als solches zu ahnden. Neiman: «Wäre es nach Hannah Arendt gegangen, hätte man Adolf Eichmann für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und nicht für Verbrechen gegen das jüdische Volk vor Gericht gestellt.»
Ohne Universalismus gebe es kein Argument gegen Rassismus, sondern bloss einen Haufen einzelner Stämme, die um die Macht rangeln. «Und sollte die politische Geschichte darauf hinauslaufen», so Neiman weiter, «dann haben wir keine Möglichkeit mehr, an einer stabilen Idee von Gerechtigkeit festzuhalten.» Doch ohne Engagement für mehr Gerechtigkeit für alle seien wir nicht imstande, nach Fortschritt zu streben.
«Links ≠ woke», Hanser Berlin.
«Links ≠ woke», Hanser Berlin.