Christian Schmid erklärt Schweizer Redensarten
«Pendler nehmen Wörter mit nach Hause»

Der Grenzwächtersohn und Mundartforscher Christian Schmid (70) hält Dialekte in einer globalisierten Welt für überflüssig – und ist deshalb erstaunt über deren guten Zustand.
Publiziert: 17.10.2017 um 16:49 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 07:30 Uhr
«Der Grenzraum ist für mich Heimat»: ­Christian Schmid auf einem ­Grenzstein im Schaffhauser Wald mit einem Bein in Deutschland, mit dem anderen in der Schweiz.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Daniel Arnet

SonntagsBlick: Herr Schmid, was stinkt Ihnen?
Christian Schmid: Wenn ich nicht weiss, was ich tun soll – das habe ich gar nicht gerne.

«Mir stinkts» heisst Ihr neues Buch. Da wussten Sie aber sehr wohl, was zu tun ist: Herkunft und Bedeutung von 50 dialek­talen Redensarten herleiten.
Ja, mit dem ersten Buch über Redewendungen, «Blas mer i d Schue», habe ich mich erfolgreich von der Radioarbeit für «Schnabelweid» auf SRF 1 in die Pensionierung ­geschrieben. «Mir stinkts» ist der Folgeband.

Christian Schmids Buch «Mir stinkts: 50 Redensarten – Herkunft und Bedeutung» ist im ­Cosmos-Verlag erschienen.
Foto: Cosmos-Verlag

«Mir stinkts» ist eine von vielen dialektalen Redensarten, die man auch im Schriftdeutschen kennt. Als Dialektologe gehen Sie stets von der mundartlichen ­Variante aus. Macht das einen Unterschied?
Redensarten, die aus dem Volksmund kommen, existieren primär in der gesprochenen Sprache. «Itz isch gnue Höi dunger» oder «Di git de d Milch scho no abe» stammen aus der Landwirtschaft, andere aus der Handwerkerwelt.

Besonders interessant wird Ihr Buch an den Schnittstellen, wo sich Mundart und Schriftsprache gerade noch, beziehungsweise nicht mehr, berühren.
An welches Beispiel denken Sie da konkret?

«Us em Eermel schüttle» kennt man auch als «Aus dem Ärmel schütteln». «Dr Eermel ichenää» gibt es allerdings nur im Dialekt. Weshalb?
Wenn Zuhörer eine Redensart gut finden, verbreitet sie sich mündlich lokal, regional, überregional und bleibt irgendwann stehen. «Dr Eermel ichenää» ist in der Schweiz gebräuchlich und hat sich dann nicht weiter ausgebreitet.

«Eim d Chappe wäsche» würde auf Hochdeutsch meist «Jemandem den Kopf waschen» heissen. Wieso einmal mit und einmal ohne Kopfbedeckung?
Weil «Chappe» auch für den Kopf stehen kann. Wenn einer zu viel ­Alkohol getrunken hat, sagt man bei uns: «Er het einen i dr Chappe.»

Und da ist der Kopf gemeint.

Ja, denn er hat den Alkoholdunst im Hirn.
«Eim d Chappe wäsche» meint eigentlich die Meinung sagen.

Ja, in der Schweiz haben wir Dutzende Redensarten, um das zum Ausdruck zu bringen. Sie kennen bestimmt auch ein paar.

«Eim d Chnöpf itue» …
… «eim d Chuttle putze», «ds Möösch putze» – das bedeutet ­Messing putzen. Im Berndeutsch heisst es «eim ds Gurli fiegge». In der Ostschweiz kennt man auch «eim de Brünzel stampfe».

Wieso kennen die Schweizer so viele Ausdrücke für «jemandem die Meinung sagen»? Wir sind ja eher als wortkarges und ­höf­liches Volk bekannt.
Das ist der Spieltrieb: Mit Redensarten kann man etwas auf pointierte Art und Weise sagen. Jeremias Gotthelfs Bücher sind gespickt mit Redensarten.

«Einem ­Dialekt geht es so gut, wie ihn die Sprecher gut ­finden», erklärt Christian Schmid.
Foto: Philippe Rossier

Will man mit einer Redensart das Gegenüber so von seiner ­Originalität und Bildung überzeugen wie etwa in der Wendung «öpper Mooris leere», die aus dem Lateinischen kommt?
Im Buch habe ich einen Abschnitt, in dem ein Autor sechs Redens­arten hintereinander gebraucht: Der will zeigen, was er kann – das nennt man mit dem Florett fechten.

Die Bildhaftigkeit ist andererseits dafür geeignet, weniger ­geschulten Kreisen das Gesagte bildlich vor Augen zu führen.
Ja, etwa wenn wir über Zeit reden: Da können wir fast nicht anders als in Bildern sprechen – meistens stellen wir sie als Weg dar.

Etwa in «die Zeit rennt davon» oder «auf der Höhe der Zeit».
Genau.

Heute besteht häufig das ­Problem, dass man die Herkunft nicht mehr kennt. Dürfte man dann die Redewendung gar nicht benutzen?
Es ist weder bei Redensarten noch bei Wörtern nötig, dass der Sprecher weiss, woher sie kommen. Er muss bloss wissen, wie man sie richtig gebraucht.

Aber wenn ich weiss, woher eine Redewendung kommt, dann kann ich sie doch auch gezielter einsetzen.
Alle können die Redensart «ufpasse win e Häftlimacher» richtig einsetzen, auch wenn kaum jemand weiss, was ein Häftlimacher ist. Das war einer, der aus Draht Verschlüsse für die Bekleidung, sogenannte Hafteln, herstellte. Es reicht zu wissen: Wendungen mit Vergleichen «wie» sind Verstärkungen. Etwa in «chotze win e Gäärbihung».

«Sich übergeben wie ein Hund eines Gerbers» – ein starkes Bild. Sind Schweizer Redens­arten deftiger?
Das kann man so nicht sagen. Viele Redensarten, die heute nur noch im Dialekt vorkommen, waren früher im gesamten deutschen Sprachraum bekannt.

Wir verwenden im Dialekt also einfach ältere Formen?
Genau. Im Berndeutschen gibt es eine alte Redensart: «Eine übers Chübeli büüre.» Die meint: Einen übers Ohr hauen. Ich war davon überzeugt, dass das eine rein ­berndeutsche Redensart ist. Bis ich im «Rheinischen Wörterbuch» aus dem Rheinland den Ausdruck «Op den Pott büren» fand.

Mundartfestival

Der Autor Andreas Neeser liest «Nüüt und anders Züüg», Moderatorin Gülsha Adilji «zeigt ihre Schnägg», und Christian Schmid «stinkts»: Am 1. Mundart­festival in ­Lenzerheide und Arosa GR finden neben der Vernissage von Schmids ­neuem Buch auch Konzerte von Züri West und Liricas Analas sowie ­Auftritte von Pedro Lenz und Renato Kaiser statt.

Der Autor Andreas Neeser liest «Nüüt und anders Züüg», Moderatorin Gülsha Adilji «zeigt ihre Schnägg», und Christian Schmid «stinkts»: Am 1. Mundart­festival in ­Lenzerheide und Arosa GR finden neben der Vernissage von Schmids ­neuem Buch auch Konzerte von Züri West und Liricas Analas sowie ­Auftritte von Pedro Lenz und Renato Kaiser statt.

Ist ein Thuner nach Köln ­ausgewandert?
Das wäre möglich. Wahrschein­licher ist aber, dass der Ausdruck in den Gebieten dazwischen einfach verloren gegangen ist. Es gibt Wörter, die es in den skandinavischen Sprachen gibt und in unseren Dialekten, aber in den Gebieten dazwischen sind sie verschwunden.

Kann man Redewendungen ­erfinden?
Ja, sicher. Ein schönes Beispiel ist «Abfaare Züri 50». Diese Redewendung gibt es noch nicht so lange, weil sie mit der Bahnpost in Zürich-Oerlikon zu tun hat. Oerlikon wurde 1934 eingemeindet und bekam die Postkennzahl Zürich 50. Die Redewendung meinte nichts anderes als «hau sofort ab», weil die dort abgegebene Post oft noch am selben Tag ankam.

Wurde die Redewendung wie die Post schweizweit verteilt?
Ja. Mein Vater war ein Berner durch und durch und hat sie häufig verwendet.

Wer hat sie verbreitet?
Man geht davon aus, dass die Soldaten während des Zweiten Weltkriegs viel dazu beigetragen haben.

Wer sorgt heute für die Verbreitung von bildhaften Wendungen?
Die Jugendsprache ist ein Triebbeet für Redensarten – wobei man sagen muss, dass diese Gewächse meist kurzlebig sind.

Zum Beispiel?
Die Redewendung «uf em Trip si» kam früher so häufig vor, dass man sie ins «Idiotikon» aufgenommen hat. Aber hört man sie heute noch?

Trauern Sie als Dialektologe ­solchen Verlusten nach?
Da habe ich zwei Seelen in meiner Brust. Als Sprachwissenschaftler weiss ich: Nichts in der Sprache ist so konstant wie die Veränderung. Mit dem muss man leben. Die Alltagssprache hat nur eine Funktion: dass wir uns über die Welt von heute unterhalten können. Sie hat nicht die Funktion, Altes zu erhalten.

Und Ihre zweite Seele?
Als Privatmann tut mir das leid. Man wächst mit einer bestimmten Sprachmusik auf – und die hat man in der Regel gerne. Wenn man älter wird, hört man diesen Klang immer weniger. Da hat man das Gefühl von Bedauern und Melancholie.

Wie geht es dem Dialekt im ­Allgemeinen?
In der globalisierten Welt geht es dem Dialekt verdammt gut, weil man ihn eigentlich nicht mehr brauchen muss. Wir kämen heute gut mit Schriftdeutsch aus. In bestimmten Fachgebieten reichte Englisch.

Und wie grenzen sich Dialekte in der mobilen Gesellschaft ­untereinander ab?
Kleinräumigkeit löst sich tenden­ziell eher auf. Sehr markante Land­dialekte haben es schwer, weil die jungen Leute heute urban klingen möchten. Diepoldsauer Dialekt, der tiefe Baselbieter Dialekt, Deutsch vom Oberbaselbiet, Klettgauer Dialekt – die werden vermutlich nach und nach verschwinden. Es wird grössere Dialekträume geben, denn beim Pendeln nehmen die Menschen auch Wörter aus den Städten mit nach Hause.

Hat sich das Bewusstsein der Schweizer gegenüber den ­Dialekten verändert?
Das Dialektbewusstsein meiner Eltern war geprägt von der geistigen Landesverteidigung. Die Mundart hat stark zu ihrem Schweizer-Sein gehört. In ihrem Kopf war zwischen dem Berner Dialekt und Schriftdeutsch eine hohe Mauer. Bei der heutigen Jugend ist die Mauer weg. Wie nah oder fern der Dialekt dem Schriftdeutschen ist, ist den Jungen egal.

Fragen Sie Christian Schmid!

Haben Sie eine Dialektfrage an Christian Schmid? Schreiben Sie an:
SonntagsBlick «Magazin», Dufourstrasse 23, 8008 Zürich, oder per E-Mail an: magazin@sonntagsblick.ch. Seine Videoantworten sind im Oktober auf Blick.ch zu sehen.

Haben Sie eine Dialektfrage an Christian Schmid? Schreiben Sie an:
SonntagsBlick «Magazin», Dufourstrasse 23, 8008 Zürich, oder per E-Mail an: magazin@sonntagsblick.ch. Seine Videoantworten sind im Oktober auf Blick.ch zu sehen.

Sie sind im Berner Jura zur Welt gekommen, lebten in Ittigen bei Bern, Basel und heute in Schaffhausen. Weshalb so viele Ortswechsel?
Ich war Grenzwächterkind, als ein Zöllner noch alle drei Jahre den Ort wechseln musste. Als ich aus der Schule kam, hatte ich schon an fünf Orten gewohnt. Ich habe deshalb keine feste Bindung an einen ­bestimmten Ort – das geht mir ­völlig ab. Aber die Grenze war in meinem Leben immer da, der Grenzraum ist für mich Heimat. Nach der Schule ging ich nach ­Basel in die Chemielaboranten­lehre und blieb dort über 30 Jahre.

Warum sprechen Sie nach so ­langer Zeit nicht Baseldeutsch, sondern Berner Dialekt?
Ich habe Baseldeutsch gesprochen; ich kann umschalten und «denn goht das». Ich ging nämlich von der ersten bis zur sechsten Klasse in ­Basel zur Schule. Und ein Kind will nicht anders sprechen als seine Klassenkameraden, denn es will nicht gehänselt werden. Wenn ich in Basel das Berner «geng» für «immer» sagte, haben alle gelacht.

Und trotzdem sprechen Sie ­heute Berndeutsch.
Was mich im Berner Dialekt immer bestärkt hat: Im Gegensatz zu ­einem St. Galler kam niemand zu mir und sagte: «Red einisch en ­aaständige Dialekt!»

Berner Mundart mag man. ­Breiten sich beliebtere Dialekte tendenziell weiter aus?
Ein Dialekt hat immer so viele Sprecher wie Menschen, die dort reingeboren wurden – man geht als ­Luzerner kaum in einen Kurs, um Berndeutsch zu lernen. Und einem Dialekt geht es so gut wie ihn die, welche ihn sprechen, gut finden.

Ändert zuweilen die Einstellung?
Ja, ein Beispiel dafür ist das Senslerdeutsch. Ein Deutsch-Freiburger, der vor Jahrzehnten nach Bern zur Arbeit ging, gab seinen Dialekt sofort auf, denn man wollte nicht zeigen, dass man aus dem katho­lischen Armenhaus der Schweiz kommt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es eine Bewegung, die radikal für das Senslerdeutsch eintrat. Danach haben ­Politiker Radiointerviews auf Senslerdeutsch gegeben – diesem Dialekt geht es heute bestens.

Der Mundart-Connaisseur

1947 in Rocourt JU zur Welt ­gekommen, lebt Christian Schmid zunächst in Basel und zieht ­später nach Ittigen BE. Für die Chemielaborantenlehre geht er zurück nach Basel, holt die ­Matur nach und studiert an der ­Univer­sität Germanistik und ­Anglistik. Nach der Promotion ­arbeitet er für den Sprachatlas der ­deutschen Schweiz. Ab 1988 ver­öffentlicht er eigene literarische Texte auf Berndeutsch. Im gleichen Jahr ­beginnt er als Radiomoderator bei DRS 1 (jetzt Radio SRF 1) und begründet 1991 die Sendereihe «Schnabelweid», die sich mit Mundartthemen ­beschäftigt. Er lebt heute mit ­seiner Frau in Schaffhausen.

1947 in Rocourt JU zur Welt ­gekommen, lebt Christian Schmid zunächst in Basel und zieht ­später nach Ittigen BE. Für die Chemielaborantenlehre geht er zurück nach Basel, holt die ­Matur nach und studiert an der ­Univer­sität Germanistik und ­Anglistik. Nach der Promotion ­arbeitet er für den Sprachatlas der ­deutschen Schweiz. Ab 1988 ver­öffentlicht er eigene literarische Texte auf Berndeutsch. Im gleichen Jahr ­beginnt er als Radiomoderator bei DRS 1 (jetzt Radio SRF 1) und begründet 1991 die Sendereihe «Schnabelweid», die sich mit Mundartthemen ­beschäftigt. Er lebt heute mit ­seiner Frau in Schaffhausen.

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