Auf einen Blick
- Viele Schweizer Spitäler stehen vor dem Kollaps
- Teuerung und Fachkräftemangel verschärfen die Krise
- Veraltete Tarife verhindern den Strukturwandel
Den Schweizer Spitälern geht es mies: Zwei Drittel aller Betriebe schlossen das vergangene Jahr mit einem Defizit ab – zusammengenommen erreichte das Minus die Höhe von fast einer Milliarde Franken. Spitaldirektoren warnen bereits vor dem Kollaps des gesamten Systems.
Wie bedrohlich die Krise tatsächlich ist, zeigen neuste Zahlen des Vereins Spital Benchmark. Die Daten spiegeln die Lage nahezu aller Schweizer Spitäler und Kliniken. Und sie liefern dadurch erstmals ein umfassendes Bild der Finanznot im Krankenhauswesen. Das Resümee: Kaum ein Akutspital ist derzeit in der Lage, sein Bestehen langfristig zu sichern.
2023 lag die sogenannte Betriebsgewinnmarge Ebitda gemäss Benchmark-Zahlen gerade noch bei mickrigen 2,5 Prozent. Dabei besagt eine Faustregel, dass Spitäler eine Marge von 10 Prozent brauchen, um nachhaltig investieren zu können. Diesen strategischen Wert aber hat im vergangenen Geschäftsjahr nur eines von zehn Schweizer Spitälern erreicht.
Sogar Häuser, die bislang finanziell als vorbildlich galten, sind in diesen kritischen Bereich abgerutscht. Kein Wunder, zeigt sich Anne-Geneviève Bütikofer (51), Direktorin des Spitalverbands H+, über die neuen Zahlen schockiert: «Die Entwicklung trifft alle, keine Spitalgruppe bleibt verschont.»
Schweizer Spitäler in der Krise
«Spitäler werden ausgehungert»
Verstärkt wird das Elend der Spitalfinanzen durch die Teuerung: Sie schlägt voll auf die Kosten durch. Am heftigsten fallen dabei zunehmende Personalkosten ins Gewicht – der aktuelle Fachkräftemangel heizt die Steigerung zusätzlich an. Zudem fehlt es bei den Spitaltarifen – die ohnehin nicht kostendeckend sind – an einem Ausgleich für die hohe Teuerung, weshalb der Spitalverband umgehend höhere Tarife sowie einen Teuerungsausgleich fordert.
Krankenversicherer und Politik wollen davon allerdings nichts wissen. Der naheliegende Grund: Werden die Tarife angehoben, führt das zu noch höheren Krankenkassenprämien, die ohnehin eine schwerwiegende Belastung für die Prämienzahler sind. Der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher (80) sagt: «Die Spitäler werden mit den nicht kostendeckenden Tarifen ausgehungert – und die Krankenkassen nehmen das bewusst in Kauf.»
Die Entwicklung, welche die neuen Kennzahlen zeigen, bezeichnet Locher als «gravierend». Mehr noch – die Dringlichkeit des Problems werde verkannt: «Den Betrieben geht es viel schlechter, als die meisten Politikerinnen und Politiker meinen!»
Schliessungen sind gewollt
Dabei wird die Bevölkerung auch ohne zusätzliche Prämienrunden zur Kasse gebeten. Statt über höhere Prämien stehen sie über die Steuerrechnung für das Defizit der Spitäler gerade. Denn die Kantone haben inzwischen millionenschwere Rettungsschirme gespannt. Der Aargau pumpte letztes Jahr 240 Millionen Franken in das Kantonsspital Aarau, St. Gallen half seinen Krankenhaus-Betrieben mit 163 Millionen aus der Misere, Bern stellt 100 Millionen zur Verfügung.
Überleben werden dennoch nicht alle. Die Berner Insel-Gruppe musste wegen Verlusten bereits zwei kleinere Standorte schliessen. Der Kanton Zürich verweigerte dem Spital Wetzikon in diesem Frühjahr die Rettung: Es sei nicht «versorgungsrelevant» – jetzt befindet es sich in der Nachlassstundung. Dazu Locher: «Eine Situation wie in Wetzikon kann überall entstehen.»
Dabei ist eine Strukturbereinigung in der kleinteiligen Spitallandschaft der Schweiz durchaus gewollt. Bereits die 2012 eingeführte Finanzierung der Spitäler über Fallpauschalen sollte die Abläufe effizienter machen – sowie die Qualität steigern. Der Wettbewerb zwischen den Häusern sollte dafür sorgen, dass jene überleben, die effizient arbeiten.
Nur: Funktioniert hat das nie. Die Kantone haben den Wettbewerb von Anfang an mit Finanzspritzen untergraben. Sie waren nicht bereit, Spitalschliessungen in Kauf zu nehmen – die sind bei der Wählerschaft unbeliebt.
Locher bezweifelt deshalb, dass es jetzt, wo der Druck auf die Spitäler rasant steigt, immer die Richtigen erwischen wird. «Durch die Rettungsschirme der Kantone werden vor allem jene mit der besten Lobby am Leben gehalten.»
Das Kosten-Paradox
Die Spitalkrise ist also auch ein Systemversagen. Selbst der gewünschte Ausbau der ambulanten Versorgung stockt. Noch immer legt man viel zu viele Patienten unnötig in ein Krankenhausbett: Nicht einmal 20 Prozent der Eingriffe werden in der Schweiz ambulant vorgenommen, weit weniger als in anderen Ländern. Obwohl die Behandlung nicht nur günstiger, sondern für den Patienten auch angenehmer wäre.
Der kostensparende Wandel scheitert paradoxerweise an der Finanzierung: Die ambulanten Tarife liegen tiefer als die stationären. Ein Spital, das mehr ambulante Behandlungen durchführt, spart zwar Ressourcen und Personal, fährt aber trotzdem ein grösseres Minus ein. Pierre Alain Schnegg (61), Gesundheitsdirektor des Kantons Bern, sagt: Wer strategisch den richtigen Weg wählt, werde heute dafür tarifär bestraft.
Schnegg ist auch Präsident der Organisation ambulante Arzttarife, die Leistungserbringer und Versicherer vereint. Nachdem Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider (60) im Juni im unendlichen Streit zwischen Versicherern und Leistungserbringern ein Machtwort gesprochen hat, kommt dem SVP-Mann die undankbare Aufgabe zu, die Umsetzung der neuen Tarife für ambulante Leistungen zu erarbeiten. Einigen sich die Widersacher nicht bis im November, legt der Bundesrat die ab 2026 gültigen Tarife selber fest.
Im November stimmt die Schweiz zudem über die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (Efas) ab. Sie soll Fehlanreize beseitigen und den Ansatz für ambulante Behandlungen mit dem für Eingriffe im Spital gleichsetzen.
Kein Geld für Digitalisierung
All dies wird dennoch nicht genügen, um die gegenwärtige Krise zu entschärfen. Zumal den Spitälern wegen der schlechten Gewinnmargen das Kapital fehlt, um eine Verstärkung des ambulanten Sektors und die Digitalisierung zu forcieren. Gemäss einer Studie der Beratungsgesellschaft KPMG investieren Spitäler und Kliniken wegen der klammen Finanzen nur 2,5 Prozent ihres Umsatzes in IT- und Digitalisierungsprojekte. Viele Betriebe stecken diesbezüglich noch immer in den Kinderschuhen.
Gesundheitsökonom Heinz Locher fordert vom Bund ein Auffangprogramm, das den Strukturwandel möglich macht: «Wir sollten nicht das bestehende System erneuern, sondern ein neues bauen.» Neben den Spitälern gehe es dabei auch um die Pflege zu Hause, die Versorgung durch Hausärzte und Kinderarztpraxen. Dafür müsse der Bund mit den Kantonen eine Projektorganisation einsetzen. «Doch Bundesrätin Baume-Schneider weigert sich, hier den Lead zu übernehmen.»
Auch H+-Direktorin Bütikofer fordert ein Umdenken der Politik. Statt nur über Kostensenkungen zu diskutieren, müsse die Finanzierung des Systems im Zentrum stehen. Erst wenn klar sei, welche Gesundheitsversorgung das Land künftig wolle, könne definiert werden, wie viele Spitäler es dafür noch brauche. Und vor allem welche.