Der Fall Alaksiej Velikaselec
Lukaschenko sucht ihn – die Schweiz weist ihn ab

Alaksiej Velikaselec glaubte an ein Ende der Diktatur in Belarus. Wie Hunderttausende andere ging er auf die Strasse. Bis er mit einer mutigen Tat zur Zielscheibe des Regimes wurde. Und in der Schweiz Schutz suchte. Doch diese will ihn und seine Familie zurückschicken.
Publiziert: 26.06.2023 um 10:05 Uhr
|
Aktualisiert: 26.06.2023 um 15:46 Uhr
1/10
Alaksiej Velikaselec am Zürcher Seeufer. Vorerst ist er in Sicherheit. Der belarussische Oppositionelle hat in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt – es wurde abgelehnt.
Foto: Zamir Loshi
RMS_Portrait_703.JPG
Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

An einem Juliabend fuhren sie mit ihren Velos durch Minsk. Gemächlich, jeder sollte mithalten können: jung, alt, gesund, handicapiert. Ein Grüppchen friedlicher Demonstranten. Ganz normale Bürgerinnen und Bürger. Unter ihnen Alaksiej Velikaselec (44), Sportartikel-Händler, Hobby: Pilzesammeln. Die Stimmung war entspannt. Bis sich am Horizont eine schwarze Wand abzeichnete. Männer mit Schlagstöcken. Sie zerrten die Menschen von ihren Rädern, schlugen auf sie ein. Nahmen einige mit. Alaksiej Velikaselec konnte sich losreissen.

Das war im Jahr 2020. Die Präsidentschaftswahlen in Belarus standen bevor. Velikaselec engagierte sich in der Opposition, er sagt: «Wir wollten einen Wandel.» Raus aus der Starre der Diktatur. Als die Schläge auf ihn niedergingen, sagte er sich: Freiheit hat in diesem Land einen Preis. Er war bereit, ihn zu bezahlen. So wie die anderen Demonstranten. Damals. Sie wussten nicht, was auf sie zukommen würde.

Alaksiej Velikaselec verfolgt jeden Tag, was in Belarus vor sich geht.
Foto: Zamir Loshi

Jetzt sitzt er auf einer Bank am Zürichsee. Die Augen müde, sein Umgang mit Worten sparsam. Er sagt im Hinblick auf den Präsidenten: «Wir haben Lukaschenko unterschätzt.»

Alaksiej Velikaselec lebt seit zweieinhalb Jahren mit seiner Frau und ihren zwei Buben, 12 und 14 Jahre alt, in der Schweiz. Nun droht der Familie die Ausschaffung. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat sein Asylgesuch abgelehnt, das Bundesverwaltungsgericht seine Beschwerde abgewiesen.

Die Schweiz nimmt wenige Belarussen auf

Die Familie Velikaselec steht für das Schicksal vieler ihrer Landsleute, die in der Schweiz Hilfe suchen. Die Asylstatistik zeigt: In den vergangenen dreieinhalb Jahren erledigte das SEM 143 Gesuche von Belarussinnen und Belarussen – und gewährte im Schnitt gerade mal jedem Zehnten Schutz. Belarussische Asylsuchende sind nicht einmal dort erwähnt, wo das SEM besondere Fälle erläutert: in der Bilanz zur Asylstatistik. Kein Wort in drei Jahren.

Lukaschenko spielt Putins Bruder

Alexander Lukaschenko (68) ist eine tragende Figur im Ukraine-Krieg. Die russischen Truppen marschierten ab 22. Februar 2022 vom südlichen Belarus aus in die Ukraine ein. Als die ukrainische Armee zurückschlug, zogen sich die russischen Truppen auf belarussisches Gebiet zurück. Die EU und die Schweiz sanktionierten Belarus dafür. Doch Lukaschenko machte weiter. Bis heute sind in Belarus 9000 russische Soldaten stationiert. Sie gehören zu einer gemeinsamen Kampftruppe – eine mögliche Speerspitze für einen neuen Angriff auf die Ukraine.

Und nun lässt Wladimir Putin (70) auch noch Atomsprengköpfe nach Belarus schaffen. Bislang beteiligte sich dieses nicht aktiv am Krieg. Lukaschenko steht unter Druck, bei einem Kriegseintritt oder einer Niederlage Russlands würde sein Regime auseinanderbrechen. Die Folge: mehr Repression. Anaïs Marin, die Uno-Sonderberichterstatterin für Belarus, warnte gerade: Die Menschenrechtslage habe sich dramatisch verschlechtert. Sie sorgt sich, dass Belarus vom «Radar verschwindet», weil es kaum mehr Proteste gibt. Weil alle unabhängigen Stimmen im Land zum Schweigen gebracht worden seien. (rwy)

Alexander Lukaschenko (68) ist eine tragende Figur im Ukraine-Krieg. Die russischen Truppen marschierten ab 22. Februar 2022 vom südlichen Belarus aus in die Ukraine ein. Als die ukrainische Armee zurückschlug, zogen sich die russischen Truppen auf belarussisches Gebiet zurück. Die EU und die Schweiz sanktionierten Belarus dafür. Doch Lukaschenko machte weiter. Bis heute sind in Belarus 9000 russische Soldaten stationiert. Sie gehören zu einer gemeinsamen Kampftruppe – eine mögliche Speerspitze für einen neuen Angriff auf die Ukraine.

Und nun lässt Wladimir Putin (70) auch noch Atomsprengköpfe nach Belarus schaffen. Bislang beteiligte sich dieses nicht aktiv am Krieg. Lukaschenko steht unter Druck, bei einem Kriegseintritt oder einer Niederlage Russlands würde sein Regime auseinanderbrechen. Die Folge: mehr Repression. Anaïs Marin, die Uno-Sonderberichterstatterin für Belarus, warnte gerade: Die Menschenrechtslage habe sich dramatisch verschlechtert. Sie sorgt sich, dass Belarus vom «Radar verschwindet», weil es kaum mehr Proteste gibt. Weil alle unabhängigen Stimmen im Land zum Schweigen gebracht worden seien. (rwy)

Die Schweiz weiss sehr gut, was in dem Land vor sich geht. Sie hat sich den EU-Sanktionen gegen Belarus angeschlossen. Half, die Schweiz-Belarussin Natallia Hersche (53) aus der Haft zu befreien. Für all jene ohne Schweizer Pass sieht es schlecht aus. Als hätte die Ukraine, der unsägliche Krieg und seine Opfer, allen hiesigen Aufnahmewillen für die Oststaaten im Kollektiv aufgebraucht. Anders die Staaten, die nach dieser Logik allen Grund dazu hätten, Stopp zu sagen. Polen nahm 1,3 Millionen ukrainische Flüchtlinge auf – und erlaubte allein in den ersten anderthalb Jahren nach der Wahl 102’000 Belarussen zu bleiben, der Hälfte dank humanitärer Visa. Ähnlich Litauen, wo in der gleichen Zeit etwa 40’000 Menschen unterkamen. Die Belarussen brauchen Hilfe von aussen. Im Innern brennt es.

Das Gesicht der Opposition: Swetlana Tichanowskaja. Sie beansprucht den Wahlsieg für sich, lebt im Exil in Litauen.
Foto: imago images/CTK Photo

Im Sommer vor den belarussischen Präsidentschaftswahlen war plötzlich eine Frau auf der Bildfläche erschienen: Swetlana Tichanowskaja (40). Sie forderte Alexander Lukaschenko (68) heraus, den Mann mit Stalin-Schnauzer, seit 29 Jahren Diktator des Landes. Sein Apparat hatte ihren Mann einsperren lassen, weil dieser gegen ihn antreten wollte. Nun kandidierte sie zusammen mit zwei weiteren Frauen. Massen strömten zu ihren Wahlveranstaltungen.

Die Bewegung entzündete, was lange zuvor verglimmt war: Hoffnung. Das Volk besann sich auf die belarussische Identität, auf die alten Nationalfarben Weiss-Rot. Die Farben der Fahne, die die Menschen nun plötzlich überall schwenkten. Die Menschen fühlten sich einen Moment lang als Teil Europas. Bis zum 9. August 2020. Am Wahltag reklamierte Lukaschenko 80,1 Prozent der Stimmen für sich.

Langzeit-Diktator: Alexander Lukaschenko.
Foto: Valery Sharifulin/TASS

Womit er nicht gerechnet hatte: Hunderttausende gingen auf die Strasse, mit Blumen in den Händen, riefen: «Uchodi!», hau ab! Lukaschenkos Männer antworteten mit Gummigeschossen und Wasserwerfern, liessen scharenweise Menschen in Kastenwagen verschwinden.

Auch Alaksiej Velikaselec war auf der Strasse. Und tat etwas, das sein Leben verändern sollte: In der Hauptstadt Minsk befreite er einen Mann aus dem Klammergriff eines vermummten Polizisten. Velikaselec sagt heute: «Ich tat es für meine Kinder.» Für ihre Zukunft. Was er damals nicht ahnte: Ein Demonstrant hatte sein Eingreifen mit dem Handy aufgenommen. Videos und Fotos von ihm landeten auf Onlineportalen. Bis heute findet man Velikaselec in der in Belarus meistgenutzten Onlinezeitung «Onliner.by», seine Gesichtszüge, die blauen Augen, alles gut auf Bildern zu Artikeln über die Proteste erkennbar.

So rückte er ins Visier der Behörden, plötzlich bekam er Warn-SMS aufs Handy geschickt: «Sie wurden identifiziert. (...) Ihre Handlungen wurden mittels Foto und Videoaufnahmen festgestellt.» Dem SonntagsBlick Magazin liegt ein SMS vor.

Ab Herbst 2020 nahm in seinem Heimatland die Repression zu, die unabhängigen Onlinemedien füllten sich mit Artikeln über Bürger, die die Sicherheitsleute zu Hause abgeholt hatten, die nach einem Scheinprozess ins Gefängnis mussten – für Wochen, daraus wurden oft, wie sich später herausstellte, Jahre.

Als Velikaselecs Frau an Covid erkrankte, entschloss er sich, wegen der Ansteckungsgefahr zu seiner Mutter und seiner Schwester in die Schweiz zu reisen. Beide haben den roten Pass und leben in der Deutschschweiz. Mit den Buben reiste er los. Er sagt, er habe nicht damit gerechnet, dass sie nicht mehr zurückkehren würden. «Ich war naiv.»

Als Velikaselec in der Schweiz angekommen war, rief ihn seine Frau an. Polizisten hatten sie zu Hause aufgesucht, fragten nach ihm, sagten, sie müssten dringend mit ihm sprechen. Sie wimmelte die Männer ab, kündigte daraufhin ihren Job und flog in die Schweiz.

Velikaselec wurde klar: «Ich muss meine Familie schützen.» Er stellte ein Asylgesuch.

Zehntausende in Gefängnissen verschwunden

Daran denkt Alaksiej Velikaselec, bevor er am Abend in seiner Sozialwohnung im Wallis die Augen schliesst. Die Familie lebt in Sitten. Seine Frau und er haben immer wieder gearbeitet, als Küchenhilfe, im Unterhalt einer Gemeinde und als Chauffeur und Ansprechpartner für Asylsuchende – wofür er dankbar ist, wie er sagt. Die Kinder sprechen akzentfrei Französisch. Der Ältere spielt Basketball, der Jüngere besucht einen Schwimmkurs. Im Winter fahren sie mit ihren Gschpänli Ski. Die Buben fühlen sich sicher. Nicht so ihr Vater. Alaksiej Velikaselec zieht die Augenbrauen hoch und sagt: «Sie stecken mich ins Gefängnis, wenn wir nach Hause gehen.»

Alaksiej Velikaselec hat Angst vor einer Rückkehr.
Foto: Zamir Loshi

Das Ausmass der Repression kartiert die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna. Sie dokumentiert die Verurteilung von politischen Gefangenen und schreibt auf Anfrage: «Seit Beginn des Wahlkampfs 2020 wurden in Belarus mehr als 50’000 Menschen festgenommen.» 1495 sassen im April im Gefängnis. Es sind nur die, die sich von sich aus bei Wjasna gemeldet haben. Alle anderen haben Angst vor noch mehr Repression. Die Dunkelziffer ist laut Schätzungen um ein Zehnfaches höher. Hinzu kommt: Wjasna weiss von mehreren Hundert Fällen von Demonstranten, die die Behörden auf Fotos und Videos im Netz identifizierten und wegsperrten. Mit welchem Werkzeug sie dies tun, sagen sie nicht. Fest steht: Das Land arbeitet mit der Gesichtserkennungssoftware Kipod.

Eine Demo-Teilnehmerin vor Lukaschenkos Schlägertrupp.
Foto: AFP

Die Stimmen aus Belarus dringen nicht in die Schweiz Das SEM lehnte den Asylantrag von Alaksiej Velikaselec am 10. Dezember 2021 ab mit dem Fazit: Die belarussischen Behörden haben die Gesichtserkennungssoftware nur zu «Bluff-Zwecken» eingeführt, Warn-SMS-Nachrichten dienen bloss «der Einschüchterung», solche erhielten viele aus der Bevölkerung. Und der Besuch der Polizisten bei Velikaselecs Frau fällt gar nicht ins Gewicht. Das SEM macht in seiner Verfügung klar: Stünde Alaksiej Velikaselec auf einer Liste, wäre er ein bekannter belarussischer Oppositioneller, sähe es für ihn besser aus.

Das SEM schätzt die Lage in Belarus als ungefährlich ein. Es sieht, laut Sprecher Reto Kormann, «keine Situation allgemeiner Gewalt im Sinne (...) des Ausländer- und Integrationsgesetzes AIG, weshalb der Vollzug der Wegweisung abgewiesener belarussischer Asylsuchender nach Belarus grundsätzlich als zulässig, zumutbar und möglich erachtet wird».

Der Schaffhauser Jurist Vadim Drozdov hat einige belarussische Asylsuchende in der Schweiz vertreten. So auch Velikaselec. Er sagt: «Die Schweizer Behörden erkennen das Ausmass der Repression in Belarus nicht.» Ein Like unter dem falschen Post, ein rot-weisses T-Shirt – das reiche schon, sagt Drozdov. «Jeder normale Bürger kann willkürlich verhaftet werden.»

Natallia Hersche erlebte Folter

Die Geschichte der Frau, die die ganze Schweiz wie ein Krimi verfolgte, bestätigt das: Natallia Hersche (53). Im September 2020 nahm die Ostschweizerin an einer friedlichen Demo teil. Ein Polizist packte sie, wollte sie in einen Transporter drängen, als sie kurz nach seiner Sturmhaube fasste, weil sie das Gesicht des Mannes sehen wollte. Die Haube verrutschte, mehr nicht. Doch reichte es für eine Haftstrafe. Erst hiess es, sie kriege 15 Tage. Daraus wurden 17 Monate.

Natallia Hersche erlebte Folter. Fast ein Jahr Einzelhaft. Unzählige eisige Nächte davon verbrachte sie in einer Kleinst-Zelle im Frauengefängnis in Gomel, die Bedingungen: Keine Matratze, keine Decke, kein Kissen, keinen Hofgang, nur ein Küchentuch gab man ihr. Sie sagt: «Ich leide heute noch.» Noch immer krampfen ihre Beine, weil sie kaum Bewegung hatte, die Muskulatur verkümmerte. Hersche sagt, die Schweiz habe keine Vorstellung davon, was in Belarus passiere, so schlimm sei das. «Es ist unmenschlich.»

Natallia Hersches einziges Glück: Sie ist Schweizerin. Für sie setzten sich Bundesrat Ignazio Cassis und die Schweizer Botschafterin in Belarus ein.

Gezeichnet von der Haft: Natallia Hersche am Tag ihrer Ankunft in Zürich. In Begleitung von Schweizer Offiziellen.
Foto: keystone-sda.ch

Für Alaksiej Velikaselec und seine Familie hingegen wird es immer enger. Vor kurzem erschien in der «Nowaja Gaseta», einer bekannten unabhängigen russischen Onlinezeitung, ein Bericht über seinen Fall. Dieser landete auf dem Telegram-Kanal von GUBOPiK, der Behörde für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Diese kommentierte: «Wir erwarten ihn hier zurück.» Die Fotos von den Protesten habe man bereits. Velikaselec könne sich nun in einem Brief schuldig bekennen, dann kriege er anstatt fünf Jahre nur zwei. Der Screenshot davon liegt dem SonntagsBlick Magazin vor.

Velikaselecs Vertreter hat nun ein qualifiziertes Wiedererwägungsgesuch gestellt, die Schweizer Behörden sollen den Fall neu prüfen. Das SEM hat bereits reagiert: Es setzte die Wegweisung aus – bis alles geklärt ist.

Alaksiej Velikaselec bangt weiter. Und kommt ins Grübeln. Er sagt: «Wir hätten besser Schutz in Polen gesucht.»

«Lukaschenko ist nichts anderes als eine Marionette»
12:32
Ausland-Reporter Schumacher:«Lukaschenko ist nichts anderes als eine Marionette»
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?