Die Schweiz muss gerade auf bittere Weise erleben, dass auch Kunst ein Reputationsrisiko sein kann. Im Herbst wurde der Erweiterungsbau des Zürcher Kunsthauses eröffnet, entworfen vom Stararchitekten David Chipperfield, gefüllt mit Gemälden von Weltrang. Der Schatz im steinernen Koloss sollte die Limmatstadt und mit ihr das ganze Land in die obersten kulturellen Sphären Europas katapultieren.
Und nun das: weltweit vernichtende Presse, zankende Historiker, getriebene Behörden. Ein Orkan ist aufgezogen, der an grosse nationale Zerreissproben wie die Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen erinnert. Die Schweiz am Pranger. Wieder einmal. Im Zentrum steht der Waffenfabrikant Emil Georg Bührle (1890–1956), zur Zeit des Zweiten Weltkriegs der reichste Schweizer. Und ein nimmersatter Kunstsammler. Vor allem 203 Bilder und Skulpturen der Sammlung E. G. Bührle locken die Massen in den Chipperfieldbau.
Die wichtigste Frage lautet: Ist es möglich, dass manche dieser Werke zur Zeit des Naziregimes unrechtmässig aus jüdischem Besitz erworben wurden? Sicher ist: Die Schweiz war in den Kriegsjahren eine wichtige Drehscheibe für Kunst; wer hier ein Bild verkaufen wollte oder musste, klopfte in der Regel zuerst bei Emil Bührle oder Oskar Reinhart an.
Wie viel Fluchtgut hängt im neuen Kunsthaus-Bau?
Die Sammlung des Winterthurer Magnaten befindet sich heute im Besitz des Bundes. Sie gilt als unproblematisch. Und das Erbe des Zürcher Schwerindustriellen?
Die Bührle-Stiftung sagt: Alles sauber, alles abgeklärt. Man verantworte eine der besterforschten Kollektionen weltweit. In einer Zusammenstellung vom 22. September nennt Stiftungsdirektor Lukas Gloor insgesamt 18 Raubkunstwerke, die nach dem Krieg durch Bührle an ihre rechtmässigen jüdischen Besitzer zurückgegeben worden sind.
Allerdings steht heute eine andere Frage im Zentrum: Wie viel sogenanntes Fluchtgut hängt da – nicht vollständig abgeklärt – im neuen Kunsthaus-Bau?
Daran entzünden sich Vorwürfe, die die stolze Metropole Zürich zum Seldwyla schrumpfen lassen: Die Stiftung soll brisante Hintergründe der Bilder kaschiert haben. Stadt und Kanton sollen im Interesse des Prestigeprojekts beide Augen zugedrückt haben. Wissenschaftler sollen Gefälligkeitsgutachten erstellt haben.
Befeuert wurde die Debatte zuletzt von Historiker Erich Keller, der mit seinem Essay «Das kontaminierte Museum» Kunsthaus, Trägerschaft und Stiftung frontal attackiert. Der Neuigkeitsgehalt von Kellers Vorwürfen ist sekundär. Doch sein Timing war perfekt. Letzte Woche schliesslich forderten ehemalige Mitglieder der Bergier-Kommission eine externe Untersuchung der Bestände.
«Die jetzigen Provenienzangaben sind häufig lückenhaft»
Eine Schlüsselfigur ist Guido Magnaguagno (75). Der legendäre Kurator und Kunsthistoriker stand Grössen wie Jean Tinguely und Harald Szeemann nahe. Von 1988 bis 2000 amtete er als Vizedirektor des Kunsthauses. Zusammen mit dem Historiker Thomas Buomberger gab er 2015 das «Schwarzbuch Bührle» heraus, eine schonungslose Aufarbeitung des Bestandes und seines Besitzers, und vor allem: von dessen Verflechtung mit der NS-Diktatur.
«Die jetzigen Provenienzangaben sind häufig lückenhaft und ihre Interpretation tendenziös», sagt Magnaguagno im Gespräch mit SonntagsBlick. Und weist zunächst auf eine essenzielle Unterscheidung hin, die auf die Bergier-Kommission zurückgeht: Raubkunst und Fluchtgut. Raubkunst wurde ihren meist jüdischen Besitzern während des Nationalsozialismus weggenommen. Fluchtgut hingegen sind Werke, die in der Schweiz von geflüchteten Juden veräussert wurden, in Notlagen verkauft werden mussten oder später auf dem internationalen Kunsthandel landeten. Dazu gehören Spitzenwerke wie ein Selbstbildnis von Vincent van Gogh, aber auch herausragende Gemälde von Courbet, Monet, Gauguin, Toulouse-Lautrec oder Modigliani.
Magnaguagno ist derzeit daran, in Eigenrecherche eine Liste der problematischen Werke zusammenzustellen und damit zur Aufklärung beizutragen.
«Raubkunst ist in der Schweiz relativ gut abgehandelt», sagt er. Nicht aber Fluchtgut. Magnaguagno identifiziert 52 Werke aus der Sammlung E. G. Bührle, bei denen nicht ausgeschlossen werden könne, dass es sich um Fluchtgut handle. Hier sei eine vertiefte Forschung nötig, fordert er. Seine Liste vom Oktober liegt auch SonntagsBlick vor.
Zuerst anerkannt, dann verrufen
Wie konnte ein solches PR-Desaster geschehen? Am Anfang stand ein Kulturkampf. In den 50er-Jahren herrschte der Optimismus des Wiederaufbaus, der Aufschwung liess die Kriegswunden Europas allmählich vergessen. Bührle sah die Zeit seiner endgültigen Aufnahme ins Zürcher Bürgertum gekommen.
Zunächst ging die Verwandlung vom Kanonen-Krösus zum schöngeistigen Darling der Hautevolee holprig voran: Der Plan Bührles, von der Universität Zürich die Ehrendoktorwürde zu erhalten, scheiterte Mitte der 50er am Widerstand der Hochschule. 1958, zwei Jahre nach dem Tod des Patrons, wurde der dominante Anbau des Museums eingeweiht, dessen Inneres fortan nach seinem Mäzen «Bührle-Saal» hiess. Nun hatte der Zampano sein Denkmal.
Inzwischen liessen Dieter und Hortense Bührle den Bilderschatz von gut 600 Werken aufteilen, den ihr Vater hinterlassen hatte. Ein Drittel wurde in die Stiftung E. G. Bührle überführt. Abgewickelt wurde die Aktion 1960 vom Londoner Kunsthändler Arthur Kaufmann, einem Jugendfreund des Waffenfabrikanten. Die beiden hatten im Ersten Weltkrieg zusammen an der rumänischen Front gekämpft. Bei den restlichen 400 Bildern in Privatbesitz, die Bührle zwischen 1936 und 1956 erstand, reden Kritiker von einem «Giftschrank». Man wisse bei jedem Werk den Vorbesitzer, betont die Stiftung. Die Hintergründe seien gut dokumentiert.
Dass die 203 Objekte für das Kunsthaus eine Leihgabe und keine Schenkung ohne Auflagen sind, bezeichnet Magnaguagno als «grossen Fehler».
Bührles Vermächtnis geriet erneut ins Wanken, als die 68er-Jahre ins Zürcher Kultur-Establishment vordrangen. Die Machtübernahme dieser Generation wurde 1980 markiert, als Guido Magnaguagno Kurator am Kunsthaus wurde. Als eine der ersten Massnahmen wurde der Bührle-Saal in «grosser Ausstellungssaal» umbenannt. Man begann sich des umstrittenen Erbes zu schämen, der Name von Hitlers Rüstungslieferant wurde tabu. Nur die bronzene Büste des Stifters im Museumstrakt blieb verschont.
Das Kunsthaus als CS-Filiale
In dieser Zeit explodierte der Kunstmarkt. Von 1970 bis heute haben sich die Preise laut Experten versiebzigfacht. Die Disziplin der Provenienzforschung hingegen steckte damals noch in den Kinderschuhen.
Der Bührle-Komplex blieb aber auch zu Magnaguagnos Zeit präsent, vor allem in der Zürcher Kunstgesellschaft, dem tragenden Organ des Museums. Präsident Carlo von Castelberg war der Schwiegersohn des Industriellen Franz Meyer-Stünzi, einem Erstunterzeichner der «Eingabe der Zweihundert», die im Zweiten Weltkrieg die Kaltstellung von Deutschland-kritischen Schweizer Chefredaktoren gefordert hatte.
Eine Bank gab mittlerweile am Pfauen, dem Standort des Kunsttempels, den Takt vor; Meyer-Stünzis Nach-Nachfolger Thomas W. Bechtler war Verwaltungsrat der Credit Suisse, auf ihn folgte als Kunstgesellschaftspräsident CS-Mann Walter B. Kielholz, der das Geldinstitut von 2003 bis 2009 präsidierte. Das Kunsthaus wurde spöttisch «CS-Filiale» genannt.
2000 kam es zum unschönen Abgang von Magnaguagno. Es war ein Coup der Bürgerlichen: Man hatte ihn erfolgreich als neuen Direktor verhindert, er ging nach Basel ans Museum Jean Tinguely. An seiner Stelle übernahm der spätere Bührle-Stiftungsrat Christoph Becker den Direktorenposten. Womit der Weg für Bührles postumen Triumphzug geebnet wurde. Becker, der noch heute im Amt ist, taufte den grossen Saal wieder in Bührle-Saal um.
Elektrisiert vom Ruhm für Land und Leute, mischte die Politik bald ganz vorne mit. Stadtpräsidentin Corine Mauch, die heute plötzlich eine externe Untersuchung der Bilder fordert, zeigte sich noch 2015 uninteressiert an einem Podium zum «Schwarzbuch» im Zürcher Kaufleuten und schickte den Stadtratskollegen Richard Wolf vor. Auf kantonaler Ebene zuständig ist Mauchs Parteigenossin Jacqueline Fehr.
Das BAK will nicht
Unter Druck fühlte man sich erst durch das Vorpreschen der Bergier-Leute. Den Boden bereiteten ein Gutachten von Historiker Matthieu Leimgruber, Arbeiten von Buomberger, Keller und Magnaguagno. Aber auch Berichte in der «Wochenzeitung», in «Beobachter» und «Republik».
Mit der Forderung der Historiker an den Bund, eine ständige Kommission für die Provenienzforschung einzurichten, erreicht die Debatte die nationale Ebene. Kulturminister ist Alain Berset, womit das Dossier bemerkenswerterweise auf allen drei staatlichen Ebenen in sozialdemokratischen Händen liegt.
Doch das Bundesamt für Kultur (BAK) will nicht. Magnaguagno findet diese Haltung «unmöglich», der Bund verstosse damit gegen geltende völkerrechtliche Abkommen. «In der Schweiz gibt es bis dato nur wenige strittige Einzelfälle im Bereich der NS-Raubkunst», entgegnet man beim BAK. Für die Schaffung einer zusätzlichen Kommission sehe man «keinen Bedarf».
Bührle-Stiftungsdirektor Lukas Gloor droht im SonntagsBlick-Interview bereits offen mit dem Rückzug der Bilder. Ein Ende des Sturms ist nicht in Sicht.