Dauercamper sind die Opfer des Campingbooms
«Uns wird das Daheim weggenommen»

Die Dauercamper in Estavayer-le-Lac FR am Neuenburgersee müssen einem Viersternecamping weichen. Der anhaltende Campingboom setzt Saisonmieter in der ganzen Schweiz unter Druck.
Publiziert: 17.08.2024 um 19:03 Uhr
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Aktualisiert: 20.08.2024 um 13:50 Uhr
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Der Campingplatz La Nouvelle Plage am Neuenburgersee.
Foto: Philippe Rossier
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Lino SchaerenRedaktor

Jolanda (61) und Roland Graber (63) sitzen vor ihrem Wohnwagen mit blau-weiss gestreiftem Vorzelt, im Fenster hängt ein Vorhang mit Häkelspitzen. Es ist Donnerstagvormittag auf dem Campingplatz La Nouvelle Plage in Estavayer-le-Lac FR. Die Grabers feiern ihren 37. Hochzeitstag. Der Sommertag ist prächtig, doch das Gesprächsthema und die Mienen sind ernst. «Für uns bricht gerade eine Welt zusammen», sagt Jolanda Graber.

Grabers sind Dauercamper. Campingfans aus dem Oberaargau im Kanton Bern, die seit 40 Jahren den Sommer auf dem Camping am Ufer des Neuenburgersees verbringen. Doch damit ist bald Schluss.

Der Schock sitzt tief

Die Gemeinde Estavayer-le-Lac rüstet den Platz Ende 2026 zu einem Viersternecamping auf. Gleichzeitig wird der öffentliche Strandbereich vergrössert. Die Parzellen für Dauercamper werden zusammengestrichen – von heute über 100 auf rund 20. Die Behörden wollen mehr Platz für Touristen und Luxuscamping mit VIP- und Premiumparzellen. Mit Umbau und Betrieb des Platzes hat die Gemeinde den Touring Club Schweiz (TCS) beauftragt.

Von diesen Plänen erfahren haben die Dauermieter im April. Bei ihnen sitzt der Schock bis heute tief. Die über Jahrzehnte gewachsene Gemeinschaft sei unersetzbar, sagt Jolanda Graber. Sie hätten auf dem Camping mehr gute Freunde als zu Hause. «Jetzt wird uns das Daheim weggenommen!»

Die Dauercamper in Estavayer-le-Lac sind Opfer des anhaltenden Campingbooms. Und sie sind damit nicht allein.

Weil die Campingplätze in den letzten Jahren regelrecht überrannt wurden, stehen die Dauermieter schweizweit unter Druck – vor allem auf beliebten Campingplätzen direkt am Wasser. Das bestätigt Marcel Zysset, Präsident des Verbandes Swisscamps, dem mehr als 200 Campingplätze angegliedert sind.

Früher seien die Dauermieter auf den Plätzen sehr gefragt gewesen, weil sie Einnahmen garantierten, wenn der Camping nur an ein paar Wochen im Jahr gut besetzt war, sagt Zysset. Jetzt würden aber viele Betreiber ihr Geschäftsmodell wegen der vielen Touristen überdenken.

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Touristen dreimal so rentabel

Denn dank der vollen Auftragsbücher lässt sich mit den Touristen viel mehr Geld verdienen. Oliver Grützner, Leiter Tourismus und Freizeit beim TCS, sagt: «Ein Touristenplatz ist heute dreimal rentabler als ein Saisonplatz.»

Zusätzliche Konkurrenz erhalten die Dauercamper durch den Glamping-Trend, eine Art glamouröses Camping. Touristen können in voll ausgerüsteten Hütten Campingluft schnuppern. Doch für Bungalows oder Safarizelte müssen andere Angebote weichen. Das zeigt sich an den Zahlen von Swisscamps: Rund 200 Saisonplätze sind seit 2022 verloren gegangen. Es ist ein schleichender Rückgang, noch bleiben 17'000 Saisonplätze auf den bei Swisscamps angeschlossenen Campings bei 23'000 Plätzen für Touristen. Weil Glamping weiter an Bedeutung gewinnen wird, geht Zysset davon aus, dass der Druck auf die Saisonplätze weiter steigt.

Bei den Dauermietern in Estavayer-le-Lac kommt das Thema Luxuscampen nicht gut an. «Eine Katastrophe» sei das, sagt Roland Kocher (79). Er und seine Frau Heidi (79) sind so etwas wie die Stammesältesten auf dem Camping La Nouvelle Plage. Sie campen hier seit 58 Jahren. Zuerst in einem kleinen Zelt, dann in einem grösseren, jetzt in einem Wohnwagen mit geräumigem Vorzelt, massgeschreinerte Schränke inklusive. Einige der Bäume, die an Sommertagen auf dem Platz für willkommenen Schatten sorgen, haben die Kochers in den 1960er-Jahren selbst gepflanzt.

Die Menschen auf dem Camping seien wie eine Dorfgemeinschaft, erzählt Heidi Kocher. Man hüte gegenseitig die Kinder und Enkelkinder, unternehme Angelausflüge, feiere spontan zusammen auf dem Platz. Jeweils am 1. August laden die bald 80-Jährigen rund 20 Personen zum Abendessen ein, Roland Kocher zeigt Fotos von einer langen Tafel, gebildet aus vielen kleinen Campingtischen.

Dass bald alles nur noch Erinnerung sein soll, macht die Kochers wütend – vor allem, weil sie nach den Überschwemmungen 2021 wie viele andere Dauercamper Tausende Franken in ihren Wohnwagen investiert haben. «Wir haben bei der Gemeinde die Bewilligungen eingeholt, aber niemand hat uns gewarnt, dass unsere Zukunft auf dem Camping unklar sein könnte», sagt Roland Kocher.

Den Rauswurf einfach so hinnehmen wollen die Dauercamper nicht. 75 Camperinnen und Camper haben sich zusammengetan und wollen sich gegen die Pläne der Gemeinde wehren. Sie haben sich einen Anwalt genommen. «Vielleicht können wir das Ende zumindest etwas hinauszögern», sagt Roland Kocher.

«Keine Feriendörfer für Pensionäre»

Den Frust der langjährigen Camperinnen und Camper könne er verstehen, sagt Oliver Grützner vom TCS. Er sagt aber auch: «Campingplätze sind keine Feriendörfer für Pensionäre mehr. Wir müssen mit der Zeit gehen.» Viersternecampings seien bei den gestiegenen Ansprüchen der Touristen heute Standard.

Dauermieter deshalb rauswerfen, sei aber nicht Politik beim TCS, betont Grützner. «Wir passen uns über die natürliche Fluktuation an», sagt er. Der TCS ist mit 25 Plätzen der grösste Campingbetreiber der Schweiz. Geht auf einem der Plätze ein Dauermieter, wird er nicht ersetzt. Stehe hingegen wie in Estavayer-le-Lac ein grosser Umbau an, sei es oft die Gemeinde, die das Areal auf einen Schlag von Dauercampern befreien wolle.

Dieselbe Erfahrung hat der TCS bereits bei der Übernahme des Campings La Tène in Marin-Epagnier NE gemacht. Der Platz liegt ebenfalls am Neuenburgersee, und auch hier hat die Gemeinde einen Viersterneplatz zur Vorgabe gemacht. Zahlreiche Dauermieter müssen spätestens Ende 2025 gehen. Gebaut werden dann 120 Touristenplätze – und keltische Hütten auf Stelzen als besondere Glampingattraktion.

Dass Gemeinden zunehmend Druck ausüben bei der Modernisierung von Campingplätzen, weiss auch Marcel Zysset. Die Dauercamper mit ihren Bauten, den Zäunen und Gartenzwergen haben meistens das Nachsehen. «Die Gemeinden wollen kein Gärtchendenken mehr», sagt der Swisscamps-Präsident. Auch die Behörden wünschten sich vom Campingboom Wertschöpfung durch aktiven Tourismus.

«Ich will die verbleibende Zeit geniessen»

Die Gemeinde Estavayer-le-Lac bestreitet finanzielle Motive beim Umbau des Campings La Nouvelle Plage. Man wolle den Platz «für möglichst viele Menschen und verschiedene Camperprofile» nutzbar machen. Heute sind die Dauercamper auf dem Platz deutlich in der Mehrheit. Die rund 20 Plätze, die nach dem Umbau für die Saisonmieter übrig bleiben, sollen laut der Gemeinde per Losentscheid an die verbleibenden Camperinnen und Camper vergeben werden.

Ob sie sich für die Verlosung einschreiben werden, wissen die Grabers und Kochers noch nicht. Sie versuche, nicht immer nur an die ungewisse Zukunft zu denken, sagt Heidi Kocher. In ihrem Alter kämpfe sie ohnehin mehr für die Zukunft der Kinder und Grosskinder der Campingfamilie auf dem Platz La Nouvelle Plage als für ihre eigene, sagt die 79-Jährige. «Für mich versuche ich jetzt einfach noch, die verbleibende Zeit zu geniessen.»

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