Joëlle Gut, viele Menschen fühlen sich aufgrund der andauernden Pandemie müde. Warum ist das so?
Joëlle Gut: Wenn das Gehirn Unsicherheit spürt, agiert unser Alarmsystem, die Amygdala. Diese hilft uns, in Gefahrensituationen schnell zu handeln. Viele Menschen sind durch die Pandemie und die wiederkehrende negativen Nachrichten in einer Art Alarmbereitschaft. Dieser Zustand braucht – wie das Standby eines Geräts – immer etwas Energie und macht müde. Auch die Ungewissheit erschöpft uns psychisch.
Was kann man dagegen tun?
Wichtig scheint mir, sich eine wöchentliche oder tägliche Alltagsroutine zu schaffen, die einem etwas Positives gibt. Regelmässige Spaziergänge, Sport zu Hause oder Tee als Ritual helfen, dem Körper einen Ausgleich zu geben. Solche Strukturen können auch Sicherheit geben – selbst wenn die Welt draussen ungewiss ist.
Joëlle Gut (45) arbeitet unter anderem in Bern und Solothurn als Psychotherapeutin. Hier erfahren Sie mehr über ihre Arbeit.
Joëlle Gut (45) arbeitet unter anderem in Bern und Solothurn als Psychotherapeutin. Hier erfahren Sie mehr über ihre Arbeit.
Manche Corona-Prognosen – etwa jene über gefährliche Virusmutationen – können Ängste auslösen. Wie soll man mit solchen Emotionen umgehen?
Respekt und gesunde Vorsicht sind durchaus sinnvoll, weil sie uns vor unüberlegten Handlungen schützen. Aber zu viel Angst blockiert und macht uns irrational, intolerant, handlungsunfähig und kann gar psychisch krank machen, etwa in Form von Depressionen. Die Bilder in den Medien prägen nicht nur unser Bewusstsein, sondern dringen vor allem in unser Unterbewusstsein vor. Daher ist es angemessen, sich dosiert und sachlich mit den Informationen rund um die Pandemie auseinanderzusetzen. Ich rate meinen Klienten beispielsweise, sich bewusst nur ein ganz bestimmtes, kurzes Zeitfenster lang mit der Thematik auseinanderzusetzen – wenn möglich in schriftlicher Form statt mit Bewegtbild. Dies hilft, eine gesunde Distanz zu wahren.
Ganz generell: Wie gelingt es uns, psychisch unbeschadet wieder aus Krisen herauszukommen?
Soziale Beziehungen sollten im Rahmen des Möglichen weiterhin gepflegt werden. Neue Hobbys oder eine Weiterbildung könnten dabei helfen, die aktuelle Phase nicht als Abwarten zu bewerten, sondern als sinnvolles Nutzen der Zeit. Wenn die Pandemie als Phase einer inneren Rückkehr und des Besinnens auf die wichtigen Dinge im Leben betrachtet wird, freut man sich umso mehr, wenn es wieder möglich sein wird, den Alltag wie vorher zu geniessen – aber eben bewusster. Eine Psychotherapie kann zusätzlich dabei helfen, den Fokus anders zu legen und trotz Pandemie wieder eine gewisse Leichtigkeit in den Alltag zu bringen.