Männer bringen sich nach ihrer eigenen Einschätzung heute stärker in die Erziehung ein. Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen aber, dass Mütter immer noch weit mehr Zeit in die Kinderbetreuung investieren. Ein Gespräch über mögliche Beschönigungen, die Väter von heute und die Herausforderungen, die sich ihnen stellen.
Herr Luterbach, haben Männer Tendenz, sich zu überschätzen?
Matthias Luterbach: Die 23 Prozent, die sich für die Erziehung hauptverantwortlich fühlen, sind eine überraschend hohe Zahl. Schönredner gibt es immer, aber ich denke nicht, dass die Väter uns etwas vorlügen. Ich interpretiere dies vor allem auch so, dass für sie die Verantwortung für die Erziehung nicht dasselbe ist wie die alltägliche Zuständigkeit in der Betreuung. Ein gleichberechtigter Elternteil zu sein, bedeutet für viele, dass sie genauso dem Kind mal den Schoppen geben, einen Wochenendausflug unternehmen oder es zu Bett bringen – und sie das nicht als «babysitten» oder «dem Mami helfen» erachten, sondern als Part ihrer Vateraufgabe. Andererseits kommt beim Väterbarometer sicher noch eine gewisse Zahl alleinerziehende Väter hinzu, die beim BFS nicht in die Resultate einfliessen.
Zählt man Haushalt und Familienbetreuung zusammen, leisten Mütter zu Hause fast doppelt soviel als Männer …
Diana Baumgarten: Soll ein Vater, der 80 Prozent arbeitet, gleich viel zu Hause leisten wie seine Partnerin, die nur einen 40-Prozent-Job hat? Wenn man alle Arbeiten zusammenzählt, liegen Männer nicht häufiger auf der faulen Haut als die Mütter …
… auf der faulen Haut liegt ja ohnehin keiner von beiden ...
Diana Baumgarten: Die gesamte Auslastung von Mutter und Vater unter der Woche ist ähnlich hoch mit rund 70 Stunden. Das «Ich mach doch mehr als du»-Gefühl ist, wenn wir Haus- und Erwerbsarbeit zusammenzählen, ein Trugschluss.
Alles in einem leisten die Frauen eine Stunde mehr pro Woche. Auf das Jahr gerechnet tischen sich da ein paar Wäschekörbe aufeinander.
Diana Baumgarten: Eine Mütter-gegen-Väter-Kampfarena aufzumachen, bringt nichts. Genauso wenig wie der Diskurs, dass Männer zu Müttern werden müssen, damit sie gute Väter sind. Vielleicht haben die Männer dafür eine lange Pendelzeit zu bewältigen. 50/50 ist ohnehin ein abstraktes Konstrukt. Im Alltag verstehen die Mütter und Väter unter «fair» oft etwas anderes. Man kann kein Strichlein pro geleerte Spülmaschine machen und dann behaupten, das sei fair.
Wie involviert sind Väter heute?
Matthias Luterbach: Väter wollen heute emotional präsent sein und eine Beziehung zum Kind aufbauen, und zwar nicht erst, wenn diese fünf sind.
Diana Baumgarten: Sie stehen aber vor Hindernissen. Man wacht nicht eines Tages auf und ist ein toller, fürsorglicher Vater. Seit den Siebzigerjahren gibt es Kritik an Rollenbildern, und trotzdem fehlen Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Es geht also nur in kleinen Schritten vorwärts. Das ist ein ständiges Ausprobieren und Scheitern.
Was unterscheidet den «neuen» vom «alten» Vater?
Matthias Luterbach: Überrascht hat mich im Barometer insbesondere der Punkt zu der Wertevermittlung: Am wichtigsten ist den Vätern, ihrem Kind Respekt gegenüber anderen Kindern und das Zuhören beizubringen, also Werte, in denen es um die Beziehung zu anderen geht. Erst dann folgen mit Grenzensetzen und dem Respekt vor Autoritätspersonen Werte, die mit Disziplin zu tun haben.
Diana Baumgarten: Wir sprechen beim «neuen Vater» vom fürsorglich, emotional präsenten Ernährer-Papi. Die Bezeichnung zeigt das Spannungsfeld, in dem Väter sich bewegen: Sie wollen präsent sein und nicht nur nach der Arbeit heimkommen und hinter der Zeitung verschwinden – aber sie wollen eben auch Ernährer sein, was eine Abwesenheit bedingt.
Fast zwei Drittel der Schweizer Papis fühlten sich in ihrer Rolle bereits einmal überfordert …
Matthias Luterbach: Vielen Männern ist heute nicht klar, wie sich diese Erwartungen vereinbaren lassen und wie man Elternschaft heute organisieren soll.
Diana Baumgarten: Spannend ist, dass Väter heute dazu stehen, sich zwischendurch hilflos zu fühlen und nicht immer Herr der Lage zu sein.
Matthias Luterbach: Es stellen sich den Vätern auch andere Fragen, die sie erst mal verunsichern können: Schreit ein Baby, kann die Mutter es stillen, der Vater kennt vielleicht noch keine solchen Handlungsmuster, an den er sich orientieren kann. Er muss erst herausfinden, wie er das Kind beruhigen kann.
Wie zeigt sich diese Verunsicherung?
Diana Baumgarten: Männer lernten oft nicht über ihre Wut, Ängste oder Überforderung zu sprechen. Verspüren sie diese Spannung, kann das bei manchen Aggressionen auslösen. Das entschuldigt es nicht, aber kann es teils erklären.
Weshalb ist Karriere so viel wichtiger als die Kinder beim Aufwachsen zu begleiten?
Matthias Luterbach: Ist sie das denn bei vielen? Sicher ist, Teilzeit drosselt aktuell die Karrierechancen – für beide Geschlechter. Das bringt Eltern in die Zwickmühle: Erfüllender Job oder präsente Vaterschaft? Überspitzt: Karriere oder Kind? Früher standen nur Mütter vor diesem Dilemma, nun werden dies auch die Väter immer stärker spüren.
Diana Baumgarten und Matthias Luterbach haben das Väterbarometer als externe Experten wissenschaftlich begleitet und die Fragen mitformuliert.
Diana Baumgarten: Die Soziologin und Genderforscherin Diana Baumgarten (44) arbeitet seit langem mit verschiedenen Themen der Familienforschung, insbesondere den Vorstellungen von Vaterschaft. Hierzu führt sie regelmässig Seminare an verschiedenen Hochschulen durch und schrieb verschiedene Publikationen.
Matthias Luterbach: Der Männlichkeitenforscher Matthias Luterbach (35) ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschlechterforschung. Er ist Mitinitiant der Arbeitsgruppe Transformation von Männlichkeit und war bis 2021 Mitglied der Gleichstellungskommission Basel-Stadt.
Diana Baumgarten und Matthias Luterbach haben das Väterbarometer als externe Experten wissenschaftlich begleitet und die Fragen mitformuliert.
Diana Baumgarten: Die Soziologin und Genderforscherin Diana Baumgarten (44) arbeitet seit langem mit verschiedenen Themen der Familienforschung, insbesondere den Vorstellungen von Vaterschaft. Hierzu führt sie regelmässig Seminare an verschiedenen Hochschulen durch und schrieb verschiedene Publikationen.
Matthias Luterbach: Der Männlichkeitenforscher Matthias Luterbach (35) ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschlechterforschung. Er ist Mitinitiant der Arbeitsgruppe Transformation von Männlichkeit und war bis 2021 Mitglied der Gleichstellungskommission Basel-Stadt.
Schweizer Männer möchten tendenziell weniger arbeiten und mehr Zeit mit den Kindern – trotzdem landen sie oft in der Ernährerrolle. Warum hapert es mit den Papis am Wickeltisch?
Diana Baumgarten: Zum einen an unseren Geschlechtervorstellungen. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie Paare in der klassischen Arbeitsteilung landen. Männer haben verinnerlicht, dass sie Ernährer sein sollen. Und die Forschung zeigt, dass auch viele Frauen erwarten, dass er das Haupteinkommen erwirtschaftet. Wir sehen bei den Frauen keine grosse Lust, die ökonomische Verantwortung für die Familie zu tragen. Ausserdem gibt es Frauen, die Mühe haben, ihre traditionell auferlegten Aufgaben abzugeben. Wir sprechen von «Maternal Gatekeeping». Das hat viel mit dem Bild der permanent verfügbaren fürsorglichen Mutter zu tun, das weiterhin sehr präsent ist.
Matthias Luterbach: Neue Väter brauchen auch neue Mütter. Auch für die Mütter ist das oftmals eine Herausforderung: Ich bemerke in meinen Studien, dass zwei Tage ohne Kind bei vielen Versagensängste hervorrufen. Sie fragen sich, ob sie eine Rabenmutter sind.
Diana Baumgarten: Auf den Frauen lastet enormen Druck, diesem Mutterbild zu entsprechen.
Sind es nicht auch ökonomische Gründe, die Väter zwingen, mehr Erwerbsarbeit zu leisten, als sie eigentlich möchten?
Matthias Luterbach: Ja, weil sie oft die besser bezahlten Jobs haben, wächst der Druck, mehr Geld für die Familie einzuholen. Ausserdem sind Männer eher in Branchen tätig, die sich gegen Teilzeitarbeit sträuben.
Diana Baumgarten: In manchen Branchen ist es fast nicht möglich, nur schon auf 100 Prozent zu reduzieren. In unserer Umfrage erzählte jemand, er gehe bereits um vier Uhr früh zur Arbeit, um rechtzeitig zu Hause und ein präsenter Vater sein zu können.
Familienarbeit bringt wenig Anerkennung in der Gesellschaft. Vielleicht wollen Männer Karriere und Prestige einfach nicht missen?
Diana Baumgarten: In den meisten Familien kümmert sich der Vater um das finanzielle Überleben der Familie. Mich ärgert, dass dies oft aus dem Blick gerät. Das hat auch mit Fürsorge für die Familie zu tun.
Matthias Luterbach: Das Unrecht gegenüber der Mütter liegt anderswo, es wird davon abgeleitet: Papi und Mami leisten etwa gleich viel für die Familie, aber die Frauen stehen im Fall einer Scheidung und im Rentenalter ökonomisch sehr viel schlechter da. Und ja, Haushalt und Kinderbetreuung geniesst weit weniger gesellschaftliche Anerkennung. Das zählt auch, wobei sich da langsam ein Wandel abzeichnet.
Sie finden, Care-Arbeit wird mehr geschätzt als früher?
Matthias Luterbach: Der Vaterschaftsurlaub deutet in diese Richtung, obwohl wir in der Schweiz vielen anderen Ländern hinterher sind.
Diana Baumgarten: Ich bin nicht sicher. Ein Jahr Corona und wir haben es nicht geschafft, Menschen im Betreuungssektor einen besseren Lohn zu zahlen. Der Kampf für die Aufwertung von Fürsorgearbeit ist zäh, die Frauenbewegung kämpft seit 150 Jahren dafür.
Spannend: Sind die Papis öfter zu Hause, steigt das Konfliktpotenzial mit der Partnerin.
Diana Baumgarten: Wenn sich Väter mehr innerhalb der Familie engagieren, gibt es mehr Bedarf an Aushandlung. Was haben wir uns vorgestellt: Dass sich Väter alles stillschweigend so übernehmen, wie die Mutter es gemacht hat?
Was für einen Einfluss hat die Pandemie auf die Geschlechterrollen?
Diana Baumgarten: Man überschätzt den Effekt. Wunder werden keine passieren. Ich denke, die Rollen werden sich ähnlich wie vor Covid wieder einpendeln.