Das Virus rast über die Kontinente. Brasilien ist am Anschlag, die Türkei im totalen Lockdown, Indien geht durch die Hölle. Warum gerade diese Länder? Fahrlässigkeit der Staatsspitzen, religiöse Feste, Mammut-Wahlveranstaltungen – das alles spielt eine Rolle.
Mindestens ebenso wichtig ist etwas Unsichtbares: Das Virus verändert sich. Es mutiert. In Südamerika wütet die brasilianische Variante, in der Türkei die britische, in Indien die Mutation B.1.617.
«Viren kopieren sich pausenlos selbst», sagt Sai Reddy (40), Immun-Forscher an der ETH-Zürich. «Aber dieser Prozess ist nicht fehlerfrei.» Die Fehler führen zu Mutationen. Meistens bleibt das folgenlos. In seltenen Fällen jedoch verbessern sie die Fähigkeit der Erreger, menschliche Zellen zu infizieren. Dies war bei der britischen Variante der Fall. Seit einem Monat wird sie in den Schweizer Statistiken als das normale Coronavirus geführt.
Und wenn es ganz dumm läuft, bremsen die Viren nach weiteren Veränderungen auch noch das Immunsystem aus. Dann können Antikörper sie unter Umständen sogar trotz Impfung nicht mehr neutralisieren. Forscher Sai Reddy: «Das ist bei der brasilianischen, der indischen und der südafrikanischen Variante der Fall – den gefährlichsten, die zurzeit zirkulieren.»
Je resistenter die Menschen, desto mehr Mutationen
Nur: Warum gerade jetzt? Wieso erleben wir seit einigen Monaten ein Dauerfeuer der Mutationen? «Selektionsdruck», sagt Reddy. Was er damit meint: Zu Beginn der Pandemie hatte der Erreger leichtes Spiel und konnte sich rasch verbreiten. Dann entwickelten immer mehr Menschen eine Immunantwort – sie hatten die Krankheit überwunden oder eine Impfung erhalten.
«Das treibt das Virus in die Enge», sagt Reddy. «Es sucht nach Ausweichmöglichkeiten, was die Mutationen beschleunigt.» Umso vernichtender seien unkontrollierte Ausbrüche wie in Brasilien oder Indien. «Viele Menschen sterben daran», sagt Reddy. «Aber wer die Krankheit übersteht, produziert Antikörper gegen diese neuen Varianten – was wiederum den Druck auf das Virus erhöht.» Die Folge: Es mutiert noch schneller.
Doch das kann es nicht ewig. «Es ist wie bei einem Schlüssel», sagt Steve Pascolo (50), Immunologe an der Uni Zürich. «Man kann sehr diskret ein paar neue Löcher hinzufügen. Aber irgendwann passt der Schlüssel nicht mehr ins Schloss.»
Wir haben die richtigen Impfstoffe bestellt
Bis es so weit ist, wütet das Virus weiter. Haben wir hier also bald Zustände wie in Brasilien oder Indien? «Auf keinen Fall», sagt Pascolo. Die Schweiz besitze ein hervorragendes Gesundheitssystem. Vor allem aber: «Wir haben auf die richtigen Impfstoffe gesetzt.»
In Brasilien und in der Türkei kommt das chinesische Vakzin Sinovac zum Einsatz. «Dieser Impfstoff ist schwach gegen Mutanten», sagt Reddy. Indien stellt das Präparat von Astrazeneca her. «Dieses zeigt Schwächen in der Abwehr von Mutanten wie der südafrikanischen Variante», sagt der Immunologe Pascolo.
Ebenfalls auf den Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers setzt die Regierung in London. Doch offenbar traut sie Astrazeneca selber nicht. Obwohl das Königreich weltweit zu den Impfturbos gehört, schränkt es die Mobilität seiner Untertanen noch immer massiv ein und hat ein striktes Grenzregime verfügt. So sind Ferien im Ausland grundsätzlich verboten. Zusätzlich hat Grossbritannien das weltbeste Überwachungssystem aufgebaut, um Mutationen zu erkennen.
Mehr zu den Mutanten
Fallzahlen in Israel dank mRNA-Impfstoff gesunken
Völlig anders sieht es in Israel aus. Dort sind die Fallzahlen drastisch gesunken. Schwere Krankheitsverläufe und Covid-Todesfälle gibt es kaum noch. Seit einem Monat führen die Israeli wieder ein normales Leben. Weil mehr als 50 Prozent der Bevölkerung geimpft sind – und zwar mit mRNA-Impfstoffen von Pfizer/Biontech und Moderna.
«Sie schützen auch gegen die jetzt bekannten Mutanten», sagt der Zürcher Forscher Pascolo. Das liege daran, dass sie eine grössere Dichte von Antikörpern im menschlichen Körper erzeugen. In der Fachsprache spricht man von einem höheren Antikörpertiter.
Ein weiterer Vorteil: Sollte es zu weiteren aggressiven Mutationen kommen, können mRNA-Vakzine relativ mühelos modifiziert werden. Auch wenn künftig neue Varianten auftauchen – die mRNA-Designer können den Impfstoff rasch anpassen.
Für die Schweiz sind das gute Nachrichten: Das Land ist etwa gleich gross wie Israel und hat auf dieselben Impfstoffe gesetzt. Auch hierzulande verabreicht man die mRNA-Dosen von Pfizer und Moderna. «Wir haben auf die richtigen Pferde gesetzt», sagt Pascolo. Der Immunologe weiss, wovon er spricht: Pascolo gehört zu den weltweiten Pionieren der mRNA-Forschung.
Schon im Sommer prophezeite er, dass die Vakzine noch 2020 bereitstehen würden (SonntagsBlick berichtete). Jetzt sagt Pascolo: «Wenn 50 Prozent der Bevölkerung zweimal geimpft sind, gibt es in der Schweiz einen Sommer wie in Israel.» Und zwar einen, dem nicht wieder ein schlimmer Herbst folgen wird.
Normalisierung erst wenn die Hälfte geimpft ist
ETH-Forscher Sai Reddy stimmt Pascolo zu: «Das ist eine realistische Prognose. Die mRNA-Vakzine wirken eindeutig besser gegen die Mutationen. Es wird ein sehr guter Sommer.» Auch Rudolf Hauri (61), Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte, ist überzeugt: «Die mRNA-Impfstoffe wirken sehr gut. Wir werden eine deutliche Normalisierung erleben, wenn die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist.»
Die USA haben bereits 300 Millionen mRNA-Dosen verimpft. Und jetzt zieht auch Ursula von der Leyen (62), Präsidentin der EU-Kommission, die mRNA-Karte: Die promovierte Ärztin hat bei Pfizer 1,8 Milliarden Dosen bestellt. «Sie wusste bis ins Detail über Mutationen Bescheid», sagte Pfizer-Boss Albert Bourla (59) nach Abschluss des Deals. Offenbar hat die EU-Chefin den Zusammenhang erkannt: Ein normales Leben sollte – gemäss aktuellem Wissensstand – trotz Mutationen möglich sein: mit dem richtigen Impfstoff.
Der letzte Sommer war allerdings auch schon gross, es wurden kaum Neuinfektionen gemeldet. Was unterscheidet 2021 von 2020? Warum passiert im Herbst nicht das Gleiche wie letztes Jahr, als wir in die zweite Welle liefen? Steve Pascolo winkt ab. «Jetzt haben wir die Impfungen. Die Hersteller haben ihre Kapazitäten massiv heraufgefahren!»
In Visp werden die Kapazitäten erhöht
Und sie bauen weiter: Lonza stellt in Visp VS gleich drei neue Produktionslinien auf. Die Fabrikation soll verdoppelt werden. Eine Million Schweizer sind mittlerweile vollständig geimpft. «Aber künftig wird es viel schneller gehen», sagt Pascolo. Tatsächlich: Am Freitag trafen weitere 500'000 Dosen von Moderna in der Schweiz ein.
Ein Risiko besteht allerdings doch. Die Zahl Antikörper im Organismus nimmt mit der Zeit ab – und es ist mit weiteren Mutationen zu rechnen. Pfizer und Moderna planen deshalb einen Booster – einen zusätzlichen Impfschuss ab Herbst. Dieser würde die Konzentration der Antikörper erhöhen und nötigenfalls die neusten Mutationen berücksichtigen.
«Auch die Schweiz sollte sich um diesen Booster bemühen», sagt Sai Reddy. «Dann werden wir nicht nur einen schönen Sommer, sondern auch frohe Weihnachten haben.»