Eines der im Deutschen am häufigsten verwendeten Wörter lautet: ja. So steht es zumindest in F. W. Kaedings Häufigkeitswörterbuch von 1897. Auch damals also haben die Menschen oft und gern «ja» gesagt. Und doch führen sich die Gegner der «Ehe für alle» auf, als ob es nur ein beschränktes Kontingent an Ja-Worten gäbe.
Neben der rechtskonservativen SVP legen sich namentlich evangelikale Kreise – die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) und die Freikirchen – gegen die Homo-Ehe ins Zeug. Auch EVP und katholische Bischofskonferenz (SBK) sprechen sich mit Nachdruck für ein Nein aus. Deshalb lohnt sich der Versuch, die Vorlage aus christlicher Perspektive zu betrachten.
Verfolgt man die Kampagne der Gegner, kommt glatt die Vermutung auf, ihnen werde nach Annahme der Vorlage etwas weggenommen. Dabei ist genug Ehe für alle da.
Bei Philipp und Annas Liebe und Hochzeit wird es an nichts fehlen, wenn Simona und Lea sich ebenfalls vermählen. Auch nach einem Ja zur «Ehe für alle» wird das nicht anders sein. Übrigens: Die Vorlage betrifft nur die zivilrechtliche Ehe. Vor den Altar treten dürften Simona und Lea auch nach einem Ja am 26. September nicht – zumindest nicht in einer katholischen Kirche.
Aus biblischer Sicht gilt die Ehe nach wie vor als «natürliche Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau». Nur ist im Leben einer jeden Person des 21. Jahrhunderts nicht mehr so viel «natürlich». Oder ist es natürlich, dass wir mit jemandem, der am anderen Ende der Welt sitzt, eine halbstündige Konversation führen können?
Die Plastikverpackung um mein Znünibrötli ist nicht natürlich, das Schmerzmedikament, das ich gestern eingeworfen habe, auch nicht. Und der Kaugummi, auf dem ich herumkaue, während ich diese Zeilen verfasse – der ist so ziemlich das Unnatürlichste der Welt.
Vieles, was gang und gäbe war, als die Bibel zu Papier gebracht wurde, macht man heute anders – was keineswegs heissen soll, dass das Buch der Bücher nicht auch heute vielen Menschen helfen kann. Nur: Es lässt sich eben so oder so auslegen. Nicht umsonst argumentieren sogar viele gläubige Christen, dass homosexuelle Menschen Teil der göttlichen Schöpfung sind.
Ausserdem: Wird die Vorlage angenommen, stärkt man entgegen manchen Befürchtungen die Familie. Denn werden Regenbogenfamilien vor dem Gesetz nicht mehr anders behandelt, bauen sich Vorurteile schneller ab, und die Bindung der Kinder zu ihren Bezugspersonen wird stabilisiert.
Wichtiger als je ein Mami und ein Papi im Haus – schon eine Vielzahl an Kindern wächst mit alleinerziehendem Elternteil auf – ist für Kinder und Jugendliche eine liebende Bezugsperson. Wird nicht die christliche Frohbotschaft immer und immer wieder als Botschaft der Liebe bezeichnet?
Gemäss der neuesten SRG-Umfrage befürworten satte 69 Prozent die Ehe für alle. Die Kirche kann und darf an ihren Traditionen festhalten – bewegt sich damit aber immer weiter von der heutigen Gesellschaft weg und kultiviert überkommene Ressentiments.
Sie sollte vielleicht im Hinterkopf behalten: Wer nicht mit der Zeit geht, geht bekanntlich mit der Zeit.