Die Gesprächspartner: verärgert. Die Stimmung: im Keller. Die Chancen für eine Lösung: schlecht.
So verfahren präsentiert sich die Situation im April 2021. Die Gespräche zwischen Bern und Brüssel über das Rahmenabkommen haben einen vorläufigen Tiefpunkt erreicht; beide Seiten empören sich über die jeweils andere Verhandlungspartei; beide versuchen, einander die Schuld über das – erwartete – Scheitern der Gespräche in die Schuhe zu schieben. Das sagt viel aus über das zerrüttete Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz – und wirft die Frage auf, wie es so weit kommen konnte.
Quadratur des Kreises
Die EU drängt seit 2008 auf ein Abkommen. Sie möchte damit die institutionellen Fragen wie jene der Streitbeilegung lösen. Was wiederum direkt mit den Schweizer Massnahmen zum Lohnschutz zu tun hat. Für die EU-Kommission stellen diese Massnahmen eine Diskriminierung europäischer Firmen dar; die Schweiz bestreitet das. Damit bleibt das Problem ungelöst. Auch die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie möchte Brüssel geregelt haben. Dabei geht es, grob gesagt, um den Zugang von EU-Bürgern zur Schweizer Sozialhilfe.
Doch als der Bundesrat 2013 sein Verhandlungsmandat verabschiedete, legte er als «rote Linien» just die flankierenden Massnahmen und die Unionsbürgerrichtlinie fest. Genau jene Fragen also, die Brüssel stören, sollten bei den Verhandlungen ausgeklammert bleiben. Das kommt einer Quadratur des Kreises gleich. Oder einer Zeitbombe. Im Sommer 2018 explodiert sie.
Verletzte Egos
Als Aussenminister Ignazio Cassis im Juni 2018 angesichts der stockenden Verhandlungen mit der EU dazu aufruft, beim Lohnschutz «kreative Wege» zu finden,ist sofort Feuer im Dach. Gewerkschaftspräsident Paul Rechsteiner schreit Zeter und Mordio, prangert den Sololauf des Tessiners an; das Verhältnis zwischen den beiden ist nachhaltig gestört. Die Gewerkschaften werden nebst der SVP zum mächtigsten Gegner des Rahmenvertrags.
Was die Schweiz in den Verhandlungen herausgeholt hat, interessiert von da an so gut wie niemanden mehr: dass die Schweiz bei der Ausarbeitung von EU-Recht künftig ein Mitspracherecht haben soll. Dass die Stimmbürger jede Übernahme von europäischem Recht an der Urne ablehnen können. Dass bei Streitfällen nicht direkt der Europäische Gerichtshof, sondern ein vorgeschaltetes Schiedsgericht zum Zug kommt.
Nein, schallt es aus Bern
Stattdessen mehren sich in der öffentlichen Debatte die kritischen Stimmen, verstärken einander gegenseitig. In der SP stellt sich Präsident Christian Levrat, zum Leidwesen mancher Parteikollegen, bedingungslos hinter die Ultimatumspolitik der Gewerkschaften. Im bürgerlichen Lager ist der Begriff «Europa» durch die langjährige Meinungsführerschaft der SVP schon fast zum Schimpfwort verkommen; die Volkspartei treibt FDP und CVP mit ihren Initiativen gegen die Personenfreizügigkeit nach Belieben vor sich her; proeuropäische Stimmen verlieren zusehends an Boden.
Sich-selbsterfüllende-Prophezeiung
So werden die Mahner je länger desto lauter, weisen auf die ungelösten Probleme hin und profitieren von dem Vakuum, das der Bundesrat hinterlässt. Denn in kompletter Hilf- und Führungslosigkeit mag sich die Regierung weder für noch gegen den Vertrag aussprechen. Während die Gegner in einer Art Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung beharrlich wiederholen, dass der Vertrag vor dem Volk keine Chance habe.
Das Resultat: Die Debatte über das Rahmenabkommen verkommt zur innerschweizerischen Nabelschau. Was die EU will, wo Brüssel vielleicht zu Kompromissen bereit wäre, was die Schweiz im Gegenzug anbieten könnte: All das spielt in der politischen Arena keine Rolle mehr.
Stattdessen entdecken die Gegner des Abkommens ständig neue Aspekte, die ihnen missfallen. Ja, sie sehen gar die heiligste aller Kühe in Gefahr: die Souveränität. Wobei es ihr Geheimnis bleibt, wie souverän die Schweiz heute ist, wo sie im «autonomen Nachvollzug» EU-Regelungen eins zu eins übernimmt oder unter dem Druck der OECD ihre Gesetze unfreiwillig anpassen muss.
Fehlendes Feingefühl
Derweil passt die bundesrätliche Arbeitsverweigerung in Sachen Rahmenabkommen zum desolaten Bild, das die Regierung in der Europapolitik bietet.
In der Kommunikation mit Brüssel folgt ein Missverständnis dem anderen. Mit dem immer gleichen Resultat: Die EU-Vertreter fühlen sich vor den Kopf gestossen. Erinnert sei nur an den Besuch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im November 2017. Der Luxemburger reiste im Glauben, das Abkommen werde demnächst unterzeichnet, für ein Treffen nach Bern. An der Pressekonferenz herrscht eitel Sonnenschein. Doch als Juncker bereits wieder in Brüssel ist, muss er aus den Medien erfahren: Die politische Führung der Schweiz hält von diesem Fahrplan gar nichts.
Kopf in den Sand
Sollte der Bundesrat in den nächsten Monaten nicht versuchen, mit kreativen Ansätzen doch noch einen Deal hinzubekommen, ist das Abkommen wohl tatsächlich gestorben. Die Gegner mag das freuen. Doch gelöst ist damit nichts: Die Probleme mit der EU werden nicht einfach dadurch verschwinden, dass die Schweiz sie ignoriert. Eine Vogel-Strauss-Politik mag kurzfristig erfolgreich sein. Langfristig bekommt es der Schweiz besser, wenn sie ihre Zukunft mitgestaltet.